Leonard Percival Howell – Der erste Rasta


 









LeonardPercivalHowell

Der erste Rasta

1933, Trinityville in der
jamaikanischen Provinz St. Thomas: Ein schwarzer Mann hält auf den
Stufen des Kircheneingangs eine flammende Rede. Dreihundert der Ärmsten
der Armen haben sich versammelt und lauschen gebannt seinen Verkündungen.
Nicht mehr der englische König, hebt er an, sondern der neue Kaiser
Äthiopiens, Haile Selassie, genannt Ras Tafari, ist der wahre König
der Schwarzen: „Wer einen Kummer hat, den er jemandem anvertrauen möchte,
der kann sich an Ras Tafari wenden. Eure Flagge ist jetzt die Flagge Abessiniens
in Grün-Gold-Rot.“ Er ruft zu Haß und Rache gegen die Weißen
auf, spricht von der Überlegenheit der Schwarzen, verunglimpft die
Regierungen von Jamaika und England und droht ihnen den Kampf an. 


 

Einige herbeigeeilte Polizisten
würden den Spuk gern unterbinden, doch im britischen Königreich,
zu dem Jamaika damals gehörte, herrschen Demokratie und Meinungsfreiheit,
jeder kann verkünden, was er will – innerhalb gewisser Grenzen, versteht
sich.

Leonard Percival Howell ist
der Name des Redners, und er ist entschlossen, diese Grenzen hinter sich
zu lassen. Das gelingt: Innerhalb eines Jahres hielt er Versammlungen vor
mehr als 800 Menschen ab. Als Prophet des Rastafarismus wird er in die
Geschichte eingehen. Es ist der Lebensweg eines Mannes, an den außer
einigen vergilbten Zeitungssauschnitten, eine Handvoll Zeitzeugen und verstreute
Forschungsberichte nur noch wenig erinnert.


 

Umso bekannter werden die
Anhänger seiner Lehre: Als Bob Marley und andere Reggaemusiker in
den Siebziger Jahren die internationalen Bühnen und Plattenspieler
erobern, sind ihre Erscheinung, ihre Aura und Verkündungen dem Publikum
zunächst nur als andersartiger Lebensstil begreifbar. Deutlich wird
immerhin, dass hier gesellschaftlich ausgegrenzte Menschen agieren; Menschen,
die in dieser Ausgrenzung nicht zerbrechen, sondern zu Stolz und aufrechtem
Gang gefunden haben. 

Und das faszinierte: Ein
Way Of Life, unter dessen Oberfläche die Verschmelzung von Wissenschaft
und westlichem Rationalismus mit afrikanischer Kultur und indischer Mystik,
und doch kann sich in den Ländern des industrialisierten Westens eine
ungewohnte Subkulturkoalition zwischen schwärmerischen Hippies und
nihilistischen Punks schnell darauf einigen.

Den eigentlichen Startschuss
zum Rastafarismus gibt jedoch nicht Howell, sondern Marcus Garvey ab. 

Er ist es, der in den Zwanziger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Krönung einen schwarzen Kaisers
in Afrika voraussagt. Ein Propagandatrick, denn Garvey, ein gut informierter
politischer Beobachter, sieht, dass sich in Äthiopien ein Machtwechsel
anbahnt. Die „Prophezeiung“ soll seiner Idee einer schwarzen Gegenökonomie
die nötige Aufmerksamkeit einbringen – religiöse Argumente sind
da wirksamer als politische. Howell nimmt derweil den PR-Schachzug für
bare Münze. Er, der die Bedürfnisse des einfachen Volkes weit
mehr verinnerlicht hat als Garvey, macht aus dem weltlichen Herrscher Selassie
einen religiösen Messias. Doch während Garvey mit dem wirtschaftlichen
Bankrott seiner Schifffahrtlinie Black Star Line als politischer Akteur
von der Bildfläche verschwindet und 1940 vereinsamt in London stirbt,
soll Howells große Zeit noch bevorstehen.


Marcus Garvey

Doch zurück ins Jahr
1933, zurück zur flammenden Rede, die Howell in den jamaikanischen
Himmel richtet. Als geborener Volksredner fesselt er die Menge durch schlagfertige
Intelligenz, strahlt selbstbewusstes Charisma aus und ist von blendend
gutem Aussehen. Sein Aufruf an die Zuhörer, sich ihrer kulturellen
Wurzeln zu besinnen, nach Afrika zurückzukehren und die Ausbeutung
der dortigen Bodenschätze den Engländern aus der Hand zu nehmen,
bedroht das koloniale Gefüge, das die ihm unterworfenen Menschen in
geschichtsloser Unmündigkeit hält.

Am 16.12.1933 berichtet die
jamaikanische Tageszeitung „Daily Gleaner“, dass Howel ca. 5000 Postkarten
mit dem Bild Haile Selassies verkauft habe, für einen Schilling das
Stück. Die Käufer habe Howell wissen lassen, dass diese Karte
ihr Passierschein für Äthiopien sei. 


 

Im Januar 1934 wird er verhaftet
und unter der Anklage der Majestätsbeleidigung, aufrührerischer
und staatsgefährdender Aktivitäten, Störung der öffentlichen
Ruhe und Ordnung und Beleidigung der Regierung Großbritanniens zu
einer zweijähriger Gefängnisstrafe verurteilt. Sein Stellvertreter
Robert Hinds kommt mit zwölf Monaten Haft davon. 

Die koloniale Regierung Jamaikas
sieht in Howells neuer Doktrin eine derartige Bedrohung, dass sie kurz
nach dem Protagonisten auch seine Mitkämpfer Archibald Dunkley und
Joseph Hibbert festnehmen läßt. 

Die Verhaftungswelle hält
die Ausbreitung des neuen Glaubens nicht mehr auf. Als sich nach der Freilassung
seiner Anhänger um ihn sammeln, gründet Howell die „Äthiopische
Heilsgesellschaft“. 

1940 vollzieht der Prediger
den entscheidenden Schritt: er kauft den Landbesitz „Pinnacle“ nahe dem
Ort Sligoville im Parish of St. Catherine in einer unzugänglichen
Berggegend 15 km nordwestlich von Kingston. Dort läßt er sich
mit mehr als 500 Anhängern nieder und gründet die erste Rasta-Kommune. 

In den Hills von St. Catherine
werden die Wurzeln von Rasta-Philosophie und –ritualen entwickelt; inklusive
Nyahbinghi Trommeln und Tanzen, rituellem Ganjarauchen und den Ideen von
Selbstversorgung und einer Lebensweise in Harmonie mit der Natur. Für
die Rastas in Pinnacle ist Repatriation – die Rückkehr nach Afrika
– das höchste Ziel. Weil das von den Umständen in Jamaika verhindert
wird, ist die beste Alternative für sie, sich zu „maroonen“ – wie
die früheren entlaufenen Sklaven sich in der Wildnis ein neues Afrika
innerhalb der Insel und eine neue Existenz aufzubauen. Pinnacle ist mehr
oder weniger zu einem Staat im Staat geworden.


 

Zum Lebensunterhalt brennen
sie Holzkohle und Kalk und betreiben Landwirtschaft für den Eigengebrauch.
Außerdem wird Ganja kultiviert, von dem ein Teil der Ernte verkauft
und der andere selbst genossen wird. Wie bei den vorausgegeangenen Maroon
Siedlungen entwickelt die Spitze der jamaikanischen Pflanzergesellschaft
Phobien vor der Siedlung und ihren Bewohnern. Der  britische rassistische
Zeitgeist läßt Dissertationen erscheinen, die Rastas mit Mördern
und Pinnacle mit dem Charles Manson Kult aus Kalifornien gleichsetzen.
Die Polizei wird eingeschaltet und führt mehrere Razzien in Pinnacle
durch. Howell wird erneut zu zwei Jahren Haft verurteilt, dieses Mal wegen
tätlicher Beleidigung und Gewaltandrohung gegen Bürger in der
Nachbarschaft. Diesen soll er sich als Haile Selassie ausgegeben und ihnen
verboten haben, Steuern an den Staat zu zahlen. 

Nach seiner zweiten Entlassung
aus dem Gefängnis kehrt Howell nach Pinnacle zurück und verschärft
die Sicherheitsvorkehrungen gegen Fremde. Die Wachtposten lassen sich Bärte
und Haare lang wachsen und nennen sich „Äthiopische Krieger“. Bei
Annähern von Fremden wird mit einem Gong gewarnt. Der einstige Wanderprediger
festigt seine Position und es kann, relativ unbehelligt von misstrauischen
Blicken, eine eigene Rastakultur und -lebensweise entstehen. Achtzehn Jahre
sind lange genug, um eine Generation freier Menschen heranzuziehen. Seine
Gemeinde und der Rastafari Glaube erhalten großen Zulauf wegen der
Entwurzelung und Vertreibung vieler Jamaikaner durch die Bauxitindustrie,
die große Landflächen oberirdisch für die Föderderung
des Grundstoffes für Aluminium durchwühlt. 


 

1958 kommt es
erneut zu Zusammenstößen und die Polizei zerschlägt Pinnacle
vollständig. 163 Kommunenmitglieder werden verhaftet. Die meisten
der Verbliebenen gehen nach Kingston. Howell, der sich inzwischen als Gott
betrachtet, verliert seine Anhänger und wird 1960 ohne Prozess diesmal
in „Bellevue“ eingewiesen – Jamaikas Nervenheilanstalt. 
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