Nitin Sawney – Human

Nitin
Sawney – Human


 

Mensch bleiben

Nitin Sawhney, britisch-indisches
Multitalent, hat mit “Human” sein sechstes Album herausgebracht. Als Grenzgänger
zwischen westlicher und asiatischer Musik hat er sich auf seinen bisherigen
Alben vor allem mit seiner Außenwelt beschäftigt. Nun geht der
Blick nach innen.

“Das Album heißt ‘Human’,
aber es hat eine Menge mit Vertrauen zu tun. Es gibt verschiedene Stadien
des Vertrauens. Erst vertraut man seinen Eltern, dann der Schule und den
Lehrern, dann den Medien und den Politikern. ‘Human’ geht zu der Idee zurück,
dass man sich selbst vertrauen muss”. 


 

Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser – manchmal haben auch die abgeschmacktesten Redensarten noch
eine Prise Weisheit in sich. Nitin Sawhneys neues Album ist eine Reise
durch die Instanzen, denen man im Laufe seines Lebens sein Vertrauen schenkt
– nicht wissend, ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist. Und es erzählt,
wie Vertrauen durch faschistische Mitschüler und Lehrer, die manchmal
heuchlerisch gepredigte Lehre der christlichen Kirche und den ungehemmten
Materialismus der Thatcher-Ära zerstört wurde. “Das Album ist
sehr autobiografisch. Es geht darum, wie das Vertrauen verlorengeht, je
älter man wird. Ich finde es schwierig, Politikern oder den Medien
zu vertrauen, da sie teilweise Desinformation betreiben”. Stichwort Thatcher
– als Intro für den Song “Promise” waren eigentlich Auszüge ihrer
Rede über ‘Die Schaffung von Reichtum ist die Grundlage aller Sozialleistungen’
eingeplant. Als sich herausstellte, das Margaret Thatcher alle ihre Reden
rechtlich hat schützen lassen, wurde die Idee begraben. “Ich wollte
Margaret Thatcher kein Geld zahlen”. Stattdessen wurden Worte von Mahatma
Ghandi verwendet. Damit ist auch der biografische Background von Nitin
Sawhney ganz gut umrissen.

Nitin Sawhney wurde 1964
im Südosten Londons als Sohn indischer Einwanderer geboren und hat
in seinem Lebenslauf, wenn er je einen geschrieben hat, so einiges aufzulisten.
Nach seinem Jura-Studium betätigte er sich als Comedian für Radio
und Fernsehen, spielte in diversen Bands, schrieb Musik für Sinead
O’Connor, machte Remixe für Paul McCartney und Sting, betätigte
sich als Produzent und schrieb Musik zu Kino- und Fernsehfilmen sowie für
klassische Orchester. 

Dass er bei all diesen Projekten
noch die Zeit findet, auch noch Alben aufzunehmen, die man als grenzüberschreitende
urbane Popmusik bezeichnen könnte (um einen möglichst großen
Bogen um die Begriffe ‘World Music’ oder ‘Ethno’ zu machen), ist erstaunlich.
Doch es sind gerade diese Alben, auf denen Sawhney die Möglichkeit
nutzt, sich mit seiner Umwelt auf einer künstlerischen Ebene auseinander
zu setzen. Das gilt auch für “Human”, dass Sawhney als sein “persönlichstes
Album” bezeichnet. Mitgewirkt haben an diesem Album – neben zahllosen anderen
Musikern verschiedenster Nationalitäten und dem 150-köpfigen
“South Indian Full Harmonic Orchestra” – unter anderem Natacha Atlas, Kevin
Mark Trail von The Streets oder die Sängerin Alani, die gerade auf
Tour mit Blur unterwegs ist. Die Single “Falling” wurde von Matt Hayles
von Aqualung eingesungen. Ursprünglich war Chris Martin von Coldplay
dafür vorgesehen, aber das scheiterte an dessen vollen Terminkalender.
Die Gäste sind jedoch keine Quoten-Featured Artists, die ein beeindruckendes
name-dropping ermöglichen sollen, sondern befreundete Mitstreiter,
die sich zum Teil auch als Co-Autoren einbringen konnten. “Alle beteiligten
Musiker sind Leute, mit denen ich auf einer emotionalen Ebene kommunizieren
konnte. Auch deshalb heißt das Album ‘Human’, weil es ein sehr emotionales,
ein sehr persönliches Album ist. Ich wollte nicht über reale
Dinge sprechen, die mir wirklich passiert sind, weil sie damit nichts hätten
anfangen können. Aber wenn man auf eine emotionale Ebene geht und
versucht, Gefühle und Erfahrungen auszutauschen, ist es viel einfacher,
zusammen zu arbeiten und Ideen zu teilen”. 

Passend zur mitunter intimen
Stimmung des Albums wurden viele Takes in Sawhneys Haus aufgenommen. Überhaupt
wurde die Gefahr der Überproduktion, die bei einem solchen Arsenal
von Sängern und Instrumenten unweigerlich gegeben ist, gekonnt umschifft.
Also eben keine mit dutzenden von Spuren zugekleisterte Multikulti-Einheitssuppe,
sondern präzise gezeichnete Klangwelten. Sawhney versteht es, die
Songs von überflüssigem Ballast zu befreien und den Focus auf
die entscheidenden Instrumente oder die Vokal-Performance seiner Sänger
und Sängerinnen zu lenken. Dass er sich dabei nicht in ermüdenden
Soundbasteleien oder psychologischer Überfrachtung verliert, hat seinen
Grund. “Ich möchte nicht, dass das Album unzugänglich ist” sagt
Sawhney – aus diesem Grund werden indische Flöten von tanzbaren R&B-Loops
getragen, in sich ruhende Melodien von einem treibenden Brasilectro-Beat
nach vorne getragen und Tablas mit einem stoischen House-Beat kombiniert. 

Also doch ‘World Music’ – 
wer es so sehen will, dem kann man das wohl nicht nehmen. Denn die Zusammenführung
von westlichen und asiatischen Musikwelten ist zwar genau das, was “Human”
macht. Aber das ist der Weg, und nicht das Ziel. Sawhney sieht die Gefahr,
die in dieser Verschmelzung liegt, aber er vermeidet sie nicht, weil sie
aus seinem persönlichen Selbstverständnis gewachsen ist. “Mich
nervt es langsam, immer in diese World-Music Schublade gesteckt zu werden
und mich über meine Nationalität rechtfertigen zu müssen.
Da lag das Problem in den letzten Jahren”. Sawhney ärgert sich vor
allem deshalb, weil die Faszination der angesprochene ‘World Music’ meistens
auf idealisierten Vorstellungen der fremden Kultur beruht – eine Erfahrung,
die Sawhney bei seinem zweiten Besuch in Indien gemacht hat: “Ich erinnere
mich, dass ich desillusioniert war. Ich hatte diese romantisierte Vorstellung
von Indien, und ich sah nur Verschmutzung und Leute, die auf der Straße
starben. Es war wirklich eine andere Erfahrung als beim ersten Mal” Sawhney
bezeichnet seine Musik auch nur als “Sound of London” – ein Begriff, der
das kulturelle Selbstverständnis Sawhneys widerspiegelt. 

Englisch, indisch – Nationalität
ist zweitrangig, an erster Stelle steht der Mensch. Auch deshalb heißt
das Album wohl “Human”. “Man kann alles sein, was man will, wenn man sich
auf sich selbst konzentriert, und sich nicht über externe Dinge definiert” 

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