RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

Spiegel online 15.12.06

STUDIE

Meeres-Anstieg verdoppelt sein Tempo

Von Franziska Badenschier

Noch in diesem Jahrhundert

könnte der

Meeresspiegel um bis zu 140 Zentimeter steigen, glaubt ein deutscher

Klimaforscher. Verheerende Sturmfluten und Überschwemmungen

könnten die

Folge sein. Andere Experten bezweifeln jedoch die Aussagekraft der

Modellrechnung.

Gummistiefel müssen her, und mehr

Küstenschutzanlagen auch: Der

Meeresspiegel könnte in diesem Jahrhundert um 50 bis 140

Zentimeter

steigen. Das zumindest glaubt der deutsche Ozeanexperte Stefan

Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).

Bisherige Prognosen für den globalen Wasserstand sagten lediglich

einen

Anstieg um 9 bis 88 Zentimeter voraus. Doch diese Zukunftsprojektion

sei nicht zuverlässig, meint Rahmstorf – und präsentiert

deswegen nun

eine eigene, neue Prognose.

Die bisherigen Klimamodelle – allesamt am Computer

erstellt – hätten

unterschätzt, dass bereits heute der globale Meeresspiegel wegen

der

Klimaerwärmung angestiegen ist: seit 1870 um 20 Zentimeter.

Rahmstorfs

Modellrechnung beruht auf Messdaten über Lufttemperaturen und

Meerespiegel-Veränderungen des 20. Jahrhunderts. Das Ergebnis: Je

wärmer es wird, desto rascher steigt der Meeresspiegel.

Wenn der für das 20. Jahrhundert gefundene

Zusammenhang auch für

die kommenden knapp 100 Jahre gültig sei und man die Szenarien des

Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zur künftigen

Erwärmung anlege, werde “der Meeresspiegel im Jahr 2100 um 0,5 bis

1,4

Meter über dem Pegel von 1990 liegen”, schreibt Rahmstorf in einer

Online-Vorabveröffentlichung des Wissenschaftsjournals “Science”.

Mehr Meer: 9, 43, 140 oder gar 1400 Zentimeter

Das Uno-Gremium IPCC geht davon aus, dass die globale

Durchschnittstemperatur bis 2100 um bis zu 4,5 Grad erwärmt und

der

Meeresspiegel allein durch die thermische Ausdehnung des Wassers um bis

zu 43 Zentimeter steigt. Eine beginnende Packeis-Schmelze in

Grönland

könne diesen Betrag noch deutlich erhöhen, heißt es im

kommenden IPCC-Bericht, der im Februar 2007 veröffentlicht werden

soll.

Neun Zentimeter, 43 Zentimeter, 140 Zentimeter bis zum

Ende des

Jahrhunderts: “Die Tatsache, dass wir mit unterschiedlichen Methoden so

unterschiedliche Abschätzungen erhalten, macht deutlich, wie

unsicher

unsere gegenwärtigen Meeresspiegel-Vorhersagen noch sind”, sagt

Rahmstorf. Deshalb halten andere Experten Rahmstorfs Zahlen durchaus

für bedenklich: “Sein Report ist ein wertvoller Beitrag zur

Diskussion,

aber wir müssen noch darüber nachdenken, ob die Daten gut

genug sind”,

sagte etwa Hans von Storch, Direktor des Instituts für

Küstenforschung

am GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht, zu SPIEGEL ONLINE. Weitere

Fachleute sprachen von mit Unsicherheit behafteten Zahlen und

bemängelten, dass nur Daten aus den letzten 100 Jahren verwendet

wurden.

Allerdings: “Ein Anstieg des Meeresspiegels gehört

zu den

physikalisch unausweichlichen Folgen der globalen Erwärmung”,

heißt es

etwa in einem Sondergutachten des Wissenschaftlichen Beirats der

Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) von Anfang 2006

ein paar Vergleichswerte inklusive:

  • Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit, also vor

    rund 20.000 Jahren,

    lag der Meeresspiegel etwa 120 Meter niedriger als heute; das Klima war

    global vier bis sieben Grad kälter.

  • Während der letzten Warmperiode, im Eem vor

    120.000 Jahren, war es

    etwa ein Grad wärmer als heute; der Meeresspiegel lag

    schätzungsweise

    zwei bis sechs Meter höher.

  • Um 25 bis 30 Meter höher als heute lag der

    Meeresspiegel vor drei

    Millionen Jahren, im Pliozän, als es zwei bis drei Grad

    wärmer war als

    zurzeit.

Ein 30 Meter höherer Wasserpegel als heute droht

derzeit zwar noch

nicht. Dafür aber gibt es eine erheblich erhöhte

Sturmflutgefahr in

London, New York und anderen Städten an den Küsten des

Nordatlantiks. Manche Küstenstädte könnten noch in

diesem Jahrhundert versinken, hieß es in einer Studie im

März dieses Jahres.

“Entscheidend ist nicht der mittlere Wasserstand,

sondern die

Sturmfluten, die obendrauf gepackt werden”, sagte der deutsche

Klimaküstenexperte Ralf Weiße im Gespräch mit SPIEGEL

ONLINE.

Schlimmstenfalls – wenn der Meeresspiegel bis 2100 wirklich um 140

Zentimeter steigen würde – würde selbst das Thames Barrier,

die größte

Flutschutzanlage der Welt, nicht ausreichen. Da der Meerespegel aber

nicht von heute auf morgen so dramatisch ansteigt, hätte man genug

Zeit, neue Schutzmaßnahmen zu treffen, ergänzte Kevin

Horsburgh vom

Proudman Oceanographic Laboratory.

Anstieg des Meeresspiegels nicht mehr aufzuhalten

Wie die Weltkarte aussähe, wenn Rahmstorfs

Prognose eingetreten ist,

macht eine kleine Erweiterung des Kartendienstes Google Maps deutlich:

Flood – eine Flutkarte, die der Engländer Andrew Tingle im

Frühjahr erstellt hat. In Meterschritten kann jeder, auch der

Laie, die Küstengebiete der Welt überfluten lassen – am

Bildschirm, digital.

Für Flood hatte Tingle einfach Höhenlinien

aus einem frei

verfügbaren Datensatz der US-Raumfahrtbehörde Nasa, in dem

das

Höhenrelief der gesamten Erde beschrieben ist, über die

Landkarten von

Google Maps gelegt. Diese simple Methode geht zwar nicht auf lokale

Besonderheiten ein und berücksichtigt auch nicht die

Flutschutzmaßnahmen der Meeresanrainer. Dennoch dürfte das

Google-Mashup viele Bewohner küstennaher Gebiete verblüffen

angesichts

der Tatsache, wie knapp sie oberhalb des Meeresspiegels wohnen.

Dass der globale Pegel sinkt, hat Tingle nicht

vorgesehen – warum

auch. Der Anstieg des Meeresspiegels lässt sich nicht aufhalten,

geschweige denn umkehren – höchstens verlangsamen. “Wir

müssten global

die Emissionen bis 2050 um die Hälfte verringern, um das

Schlimmste zu

verhindern”, sagte Rahmstorf zu SPIEGEL ONLINE.

Allerdings: Die Idee des Kyoto-Protokolls – bis 2012

reduzieren die

Industriestaaten ihren Klimagasausstoß bereits, später

kommen auch die

Entwicklungsländer dazu – wird wohl kaum Realität. Ein

aktueller Uno-Klimareport zeigt nämlich im Detail, dass sich die

Entwicklung genau in die falsche Richtung gedreht hat.

Der wichtigste Messwert für den menschlichen Einfluss auf das

Weltklima, der Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2),

steigt

demnach kräftig – seit dem Jahr 2000 nehmen die Emissionen nicht

mehr

ab wie im Jahrzehnt davor, sondern steigen wieder.

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