RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

 
Spiegel

online 27.08.07

ZEITBOMBE VESUV

Vulkanforscher warnen

vor Untergang Neapels

Von Stephen S. Hall

Europas gefährlichster

Vulkan überschattet das Leben von drei Millionen Menschen in Neapel

und Umgebung – und jedes Jahr wird ein neuer Ausbruch wahrscheinlicher.

Einige Forscher fürchten: Die nächste Explosion wird selbst die

Katastrophe in den Schatten stellen, die Pompeji untergehen ließ.

Ein erster donnernder Knall

hallte über die Ebene Kampaniens. Es folgte ein Hagel aus Glut. Der

Mann und die Frau verließen hastig ihr Dorf. Sie flüchteten

nach Osten, einen sanft ansteigenden Hügel hinauf. Die beiden hofften

wohl, in einem nahe gelegenen Wald Schutz zu finden.

Dem flüchtenden Paar

kam es vor, als würde es von den Göttern gesteinigt. Erschöpfung

packte den Mann und die Frau. Und Angst vor der Dunkelheit, die sich auf

sie niedersenkte. Jeder Atemzug wurde schwieriger. Sie kämpften sich

noch ein Stück weit den Hang des Berges hinauf, auf dem heute das

Castel Cicala thront. Dann starben sie einen qualvollen Erstickungstod.

“Sie können nicht mehr

als ein paar Meter weit gesehen haben”, sagt Giuseppe Mastrolorenzo, Vulkanologe

am Osservatorio Vesuviano. In einem kleinen, hellen Raum im Anthropologischen

Museum der Universität Neapel beugt er sich über eine Vitrine,

in der das wunderbar erhaltene Skelett der jungen Frau auf einem Lager

aus Bimsstein liegt. Es ist noch genau so, wie es aufgefunden wurde.

“Als Pompeji und Herculaneum

verschüttet wurden, starben die Menschen einen schnellen Tod”, fügt

der Anthropologe Pier Paolo Petrone hinzu, der das weibliche Skelett ausgegraben

und untersucht hat. “Der Tod dieser Frau aber war tragischer, weil er eben

nicht plötzlich eintrat.” In einer letzten sinnlosen Geste hob sie

wie der Mann neben ihr die Arme, um ihr Gesicht zu schützen – in dieser

Haltung erstarrten beide für alle Ewigkeit.

Das todgeweihte Paar floh

nicht etwa vor der berühmten Eruption im Jahr 79, der Pompeji und

Herculaneum zum Opfer fielen. Nein, es lebte in der Bronzezeit, in einer

von Dutzenden prähistorischen Siedlungen, die in dieser fruchtbaren

Ebene lagen. Und der Ausbruch, vor dem es sich zu retten versuchte, war

noch viel heftiger. Die Avellino-Eruption, wie sie genannt wird, ereignete

sich vor ungefähr 3780 Jahren. Heute glauben einige Forscher, dass

sie das Modell einer Katastrophe darstellt, die Neapel treffen könnte.

Donnerschlag

Bei manchen Vulkanausbrüchen

ergießt sich die Lava in langsamen, malerischen Strömen. Aber

bei einem Ereignis wie der Avellino-Eruption ist der Schlot des Vulkans

zunächst fest mit massivem Gestein verstopft. Erst durch einen gewaltigen

Druckanstieg in der darunterliegenden Magmakammer reißt eine freie

Bahn bis zur Oberfläche auf. Das flüssige Gestein wird durch

die Wucht der Eruption so schnell in die Luft geschleudert, dass es die

Schallmauer durchbricht. Ein Überschallknall entsteht, im Italienischen

boato, “Donnerschlag”, genannt.

Plinianische Eruption

Bei der Avellino-Eruption

wurden pro Sekunde fast 100.000 Tonnen heißes Gestein, Schlacke und

Asche ausgestoßen. Die gigantische Wolke erreichte eine Höhe

von ungefähr 35 Kilometern – die dreifache Reiseflughöhe einer

Passagiermaschine. Sie verbreiterte sich nach oben hin und nahm die typische

Form einer Pinie an. Sie wird als “plinianisch” bezeichnet, seit sie von

Plinius dem Jüngeren erstmals beschrieben wurde, der dem römischen

Historiker Tacitus über den Vesuv-Ausbruch und die Zerstörung

Pompejis im Jahr 79 berichtete.

Todbringende Wolke

Bei der Eruption vor 3780

Jahren wehte Südwestwind. Er trug das meiste Auswurfmaterial nach

Nordosten, Richtung Nola und Avellino. Bimsstein- und Lapilli-Schichten

türmten sich bis zu 2,50 Meter hoch auf. Die Aschesäule stand

vermutlich zwölf Stunden am Himmel. Dann fiel sie in sich zusammen

und setzte die apokalyptische Abfolge von Ereignissen in Gang, die eine

plinianische Eruption zu einer der schlimmsten Naturkatastrophen machen.

Pyroklastischer Strom

Wenn eine plinianische Säule

in sich zusammenfällt, erzeugt sie einen pyroklastischen Strom – eine

glühende, rasend schnelle Lawine aus Gesteinsbrocken, Asche und heißen

Gasen, die an den Hängen eines Vulkans zu Tal schießt. Sie kann

kilometerweit reichen. Es gibt nicht viele Menschen, die eine Glutwolke

aus nächster Nähe miterlebt, geschweige denn überlebt haben.

In manchen ihrer physikalischen Eigenschaften ähnelt sie den riesigen

Wolken aus Staub und Asche, die 2001 beim Einsturz des World Trade Center

in New York entstanden.

Das Bild der vulkanischen

Macht des Vesuv, das Petrone und Mastrolorenzo zusammen mit ihrer Kollegin

Lucia Pappalardo gezeichnet haben, ist eine eindringliche Warnung: Sieh

dich vor, Neapel, mit deinen drei Millionen Einwohnern! Denn ein Ausbruch

dieses Ausmaßes wird sich möglicherweise wieder ereignen – vielleicht

sogar schon sehr bald, jedenfalls in geologischen Zeitbegriffen gesehen.

Bei Bauarbeiten für

die neue Bahnhochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Neapel und Rom wurden

im Sommer 2004 nahe der Stadt Afragola Tausende menschliche Fußspuren

entdeckt. Geologische Analysen beweisen, dass die Abdrücke von bronzezeitlichen

Bewohnern stammen, die vor der Avellino-Eruption flohen.

Mastrolorenzo, Petrone, Pappalardo

und der amerikanische Vulkanologe Michael Sheridan riefen weltweites Interesse

hervor, als sie im Frühjahr 2006 ihre Erkenntnisse im Fachblatt Proceedings

of the National Academy of Sciences” (PNAS) veröffentlichten. Die

Avellino-Eruption, so schrieben sie, “löste einen soziodemografischen

Zusammenbruch aus und führte dazu, dass die gesamte Region für

mehrere Jahrhunderte aufgegeben wurde”. Computermodelle verdeutlichten,

dass ein Ausbruch wie die Avellino-Eruption eine konzentrische Welle der

Zerstörung verursacht, durch die Neapel und weite Teile seiner Umgebung

vernichtet würden. In Zeiten vor dem Hurrikan “Katrina” und dem Tsunami

im Indischen Ozean wären solche Warnungen den Menschen vielleicht

ebenso seltsam erschienen wie jene prähistorischen Fußspuren.

Man muss eine Eintrittskarte

erwerben, der Gipfel des Vulkans gehört heute zu einem Nationalpark.

Dann wandert man auf einem Zickzackpfad über die rostrote, stark eisenhaltige

Schlacke des Kegels. Dabei kommt man nicht nur an Andenkenläden vorbei,

sondern auch an den Betonpfeilern der stillgelegten Zahnradbahn, von der

die breitschultrigen jungen Träger abgelöst wurden; der Originalversion

dieses Beförderungsmittels aus dem 19. Jahrhundert verdanken wir das

berühmte neapolitanische Volkslied “Funiculì, Funiculà”.

Vom Kraterrand reicht die Aussicht an einem klaren Tag im Süden bis

nach Capri und zur Halbinsel Sorrent, im Nordwesten bis nach Neapel und

Ischia. Der Blick geht nach Pompeji und Herculaneum, hin zu den Opfern

der geologischen Kräfte, die unter den Füßen des Besuchers

schlummern.

Im Jahr 1631 gab es eine

sub-plinianische Eruption, die freilich immer noch gewaltige Ausmaße

hatte. Im 18., 19. und 20. Jahrhundert flossen bei zahlreichen Ausbrüchen

ergiebige Lavaströme aus dem Vesuv. Als Mastrolorenzo noch ein Kind

war, erzählte ihm seine Großmutter oft, wie sein Großvater

nach der Eruption von 1906 in Neapel Asche und Schlacke von den Dächern

gefegt hatte. Seit dem jüngsten Ausbruch im Jahr 1944 ist der Schlot

blockiert. Wenn der Vulkan gelegentlich daran erinnert, dass er nach wie

vor aktiv ist, löst das bei den Menschen, die auf dem Vesuv oder in

seiner Nähe leben, einen komplexen Verdrängungsmechanismus aus.

Sie reden sich die Gefahr gern klein und leben auf eine elegant fatalistische

Weise für den Augenblick – vielleicht noch mehr als in vielen anderen

Teilen Italiens.

An einem klaren Tag kann

man mit einem Fernglas die Festung Maschio Angioino, auch als Castel Nuovo

bekannt, im Zentrum von Neapel erkennen. Sie war im 13. Jahrhundert das

Stammhaus der französischen Dynastie Anjou, die das Königreich

Neapel erneuerte. Und sie ist das geographische, aber auch emotionale Herz

der Stadt.

Einige Tage nach meinem Besuch

auf dem Gipfel führt mich Mastrolorenzo tief hinunter in das Fundament

der Festung, zwei Stockwerke unter den eleganten Saal, in dem kurz zuvor

der Stadtrat von Neapel seine wöchentliche Sitzung abgehalten hat.

Er zeigt mir eine Schicht aus Vulkanbimsstein und Asche, die ungefähr

einen Dreiviertelmeter dick ist. Sie rührt, wie er sagt, von der Avellino-Eruption

her.

Ein Kollege von Mastrolorenzo,

der Vulkanologe Michael Sheridan von der Universität des Staates New

York, ist Fachmann für Eruptionskatastrophen in der Nähe dicht

besiedelter Gebiete. Sheridan hat den Ausbruch des Mont Pelée auf

der Insel Martinique erforscht, bei dem 1902 die Stadt St. Pierre zerstört

wurde. Er beobachtet den Cotopaxi, einen aktiven Vulkan, der im Hochland

der ecuadorianischen Anden mehr als eine Million Menschen bedroht. Als

ich ihm von den Ablagerungen im Castel Nuovo erzähle, sagt er: “Das

ist wirklich schlimm. Auf St. Pierre lagen 20 Zentimeter von dem Zeug –

die Stadt wurde zerstört, alle Bewohner starben. In diesem Teil von

Neapel würde es keine Überlebenden geben.”

Aus gesammelten Daten wissen

die Forscher, dass sich am Vesuv in jüngerer geologischer Zeit plinianische

Eruptionen in einem Rhythmus ereignet haben, der Anlass zur Sorge gibt.

Seit einem Ausbruch vor 25.000 Jahren hat es größere Eruptionen

vor 22.500, 15.000, 11.400 und 8000 Jahren gegeben. Vor 3780 Jahren kam

die Avellino-Eruption, vor knapp 2000 Jahren der Pompeji-Ausbruch. Sheridan

und Mastrolorenzo legten ein Intervall von etwa 2000 Jahren zwischen den

heftigsten Eruptionen zugrunde. Sie berechneten, dass die Wahrscheinlichkeit

eines großen Ausbruchs zurzeit höher ist als 50 Prozent. Und

von Jahr zu Jahr nimmt sie ein wenig zu – je größer der Abstand

zur jüngsten großen plinianischen Eruption wird.

Als Mastrolorenzo, Petrone,

Pappalardo und Sheridan ihre Forschungsergebnisse im März 2006 veröffentlichten,

lösten sie mit ihrer Aussage, am Vesuv stehe eine gewaltige Eruption

bevor, die sogar den Großraum Neapel gefährden könne, eine

heftige Kontroverse aus. In den aktuellen Evakuierungsszenarien kommt die

Millionenstadt nicht vor. Der italienische Krisenplan, 1995 erstellt und

zuletzt 2001 überarbeitet, geht von einer sub-plinianischen Eruption

aus, wie sie sich 1631 ereignete. In diesem Szenario hat die Evakuierung

der Bewohner Priorität, die in unmittelbarer Nähe des Vesuv leben.

Es sind 600.000 Menschen in dieser “Roten Zone”, zu der 18 Gemeinden an

den Hängen des Vulkans gehören.

Als im vergangenen Jahr der

Artikel in einer amerikanischen Wissenschaftszeitschrift erschien, bezeichnete

Enzo Boschi, Präsident des Nationalen Instituts für Geophysik

und Vulkanologie, Sheridans Risikoanalyse als “verantwortungslose Panikmache”.

Er erklärte rundheraus, “die Evakuierungspläne werden nicht geändert”.

Einige Vulkanologen der Universität Neapel bezeichneten die in dem

Bericht ausgesprochene Warnung sogar als “Wissenschaftsterrorismus”.

Nun ist die Vorhersage eines

Vulkanausbruchs in der Tat bis heute sehr schwierig. Vor dem Ausbruch des

Mount St. Helens im Jahr 1980 gab es Anzeichen für erhöhte vulkanische

Aktivität, doch ein Bericht des US Geological Survey konstatierte:

“keine Veränderung im Vergleich zum Muster des Vormonats”. Am Morgen

des 18. Mai 1980 verzeichneten die Überwachungsgeräte der Behörde

“keine ungewöhnlichen Veränderungen, die als Warnung vor der

Katastrophe gedeutet werden konnten” – ungefähr anderthalb Stunden

später trat sie ein.

Die Vulkanologen glauben,

eine “baldige” Eruption vorhersagen zu können, wenn der Vesuv erneut

rumort. Als ich Mastrolorenzo frage, was mit “bald” gemeint sei, antwortet

er: “Das ist das Problem. Wir wissen es nicht – jedenfalls nicht so genau,

wie man das Eintreffen eines Hurrikans vorhersagen kann.” Diese Ungenauigkeit

könnte für die Evakuierung einer Großstadt verheerende

Folgen haben.

“Es ist schwer, sich vorzustellen,

was sich in den Tagen vor einer Eruption abspielen würde”, sagt Mastrolorenzo.

“Es wäre wohl schlimmer als der eigentliche Ausbruch.” Einige Neapolitaner

würden vielleicht schon beim ersten seismischen Rumpeln die Flucht

ergreifen, andere würden bleiben, wieder andere nach einem wochen-

oder gar monatelangen seismischen Hin und Her wieder in ihre Stadt zurückkehren.

Es gibt einfach keinen aktuellen Präzedenzfall für die Evakuierung

einer Stadt dieser Größenordnung.

Wo sich die vier Spuren der

Tangenziale zu zweien verengen, kommen die Autos nur zentimeterweise voran.

Durch dieses Nadelöhr muss jeder hindurch, der nach Norden will. Für

anderthalb Kilometer brauche ich ungefähr eine Stunde, dabei hat an

diesem Tag niemand etwas Wichtigeres im Sinn, als an den Strand zu kommen.

In so einem Stau wäre jeder Evakuierungsplan hoffnungslos optimistisch.

Bei einer Proberäumung der “Roten Zone” im Oktober 2006 kam der Verkehr

auf der nahe gelegenen Autobahn Neapel-Pompeji tatsächlich zum Erliegen.

Der Exodus wurde zusätzlich durch ein nächtliches Gewitter beeinträchtigt;

Portici, eine der 18 Gemeinden, machte nur unter Protest mit. Es war eine

Übung, pro Gemeinde nahmen jeweils nur 100 Einwohner teil. Regierungsvertreter

äußerten sich “zufrieden” über den Verlauf; in den Nachrichten

war von “Verzögerungen und Chaos” die Rede.

Auf jeden Fall muss eine

Evakuierung im großen Stil schon lange vor einem Ausbruch von der

Heftigkeit einer Avellino-Eruption anlaufen. Sobald der Ausbruch begonnen

hat, sobald Milliarden Kubikmeter Asche, Gestein und Schutt zu Boden regnen,

ist jedes Transportmittel nutzlos. Flugzeuge können nicht fliegen,

Züge nicht fahren. Autos, Busse und Motorroller kommen schon nicht

mehr durch, wenn die grobe Asche nur zehn bis zwölf Zentimeter hoch

liegt. Es gibt nur eine Fluchtmöglichkeit: laufen.

Bleiben dann, 4000 Jahre

nach Avellino, von den Bewohnern Kampaniens wieder nur die Fußspuren

in der Asche?

 

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