RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

 
Spiegel

online 10.10.07

NEUE STUDIE

Erderwärmung wird

kritische Grenze überschreiten

Von Volker Mrasek

Zwei Grad Celsius – stärker

darf sich die Erde nicht erwärmen, sonst drohen nach Meinung von Forschern

katastrophale Folgen. Eine neue Studie besagt jetzt: Die Zwei-Grad-Grenze

wird fallen, selbst wenn die Vorhaben zur Treibhausgas-Reduzierung umgesetzt

werden.

Der globale Kohlendioxid-Ausstoß

steigt von Jahr zu Jahr, trotz aller Bemühungen zur Eindämmung

der Emissionen – und China und Indien haben ihre wirtschaftliche Aufholjagd

gerade erst begonnen. Da klingen viele aktuelle Klimaschutzziele ziemlich

ambitioniert. Die führenden Industriestaaten etwa erklärten auf

dem G-8-Gipfel in Heiligendamm, es müsse “ernsthaft erwogen” werden,

die Treibhausgas-Emissionen bis zum Jahr 2050 “wenigstens zu halbieren”,

so wie es die EU und Japan vorhaben. Andere haben sich noch ehrgeizigere

Reduktionsziele für die Jahrhundertmitte gesetzt – Großbritannien

zum Beispiel 60 Prozent, Frankreich 75 Prozent, Deutschland sowie die US-Bundesstaaten

Kalifornien und New Jersey sogar 80 Prozent.

Das Ziel der Bemühungen:

Die Erwärmung der Atmosphäre soll auf maximal zwei Grad gegenüber

der vorindustriellen Zeit begrenzt werden. Dieser kritische Schwellenwert

darf nach Meinung von Klimaforschern nicht überschritten werden, will

man gefährliche Entwicklungen in der Zukunft vermeiden – etwa das

langsame, aber unaufhaltsame Abschmelzen von Grönlands Eisschild nebst

meterhohem Meeresspiegelanstieg.

Doch jetzt bekommen die Hoffnungen,

unterhalb der magischen Grenze zu bleiben, erneut einen Dämpfer: Einer

neuen Studie aus Kanada zufolge reichen selbst die ehrgeizigsten der CO2-Reduktionsziele

nicht aus, um die Zwei-Grad-Marke zu halten. “Wir zeigen in unserer Studie,

dass eine große Diskrepanz zwischen dem Zwei-Grad-Ziel und den angestrebten

Treibhausgas-Reduktionen bis 2050 besteht”, sagt der Klimaforscher Andrew

Weaver von der University of Victoria im kanadischen British Columbia.

Der Mathematiker und Physiker ist Erstautor der neuen Arbeit, die das US-Fachmagazin

“Geophysical Research Letters” jetzt veröffentlicht hat.

Demnach wird die Welt die

Zwei-Grad-Latte schon in diesem Jahrhundert reißen, falls sie ihre

kollektiven Treibhausgas-Emissionen bis zur Jahrhundertmitte nicht um mehr

als 60 Prozent drosselt. “Besonders erschreckend aus politischer Sicht”

ist, so die Autoren, dass nach den Modelläufen nicht einmal eine 90-prozentige

Emissionsminderung ausreiche, um die Zwei-Grad-Grenze auf lange Sicht einzuhalten.

Die Marke würde dann etwa um das Jahr 2300 fallen, wie sich aus den

Simulationen ergibt. Der Grund ist die außerordentlich langsame Reaktion

des Klimasystems auf die CO2-Anreicherung.

“Dieses Gerede über

20, 30 oder 50 Prozent Abschlag führt uns nicht einmal in die Nähe

des zu erreichenden Temperaturziels”, folgert Weaver. Er schlägt vor,

den Treibhausgas-Ausstoß nicht nur drastisch herunterzufahren, sondern

zusätzlich “Technologien zu entwickeln, mit denen wir Kohlendioxid

aus der Atmosphäre entfernen”. Anders könne man nicht unter der

kritischen Temperaturschwelle bleiben.

Forderung nach CO2-Entfernung

aus der Atmosphäre

Ein Weg ist zum Beispiel,

nicht nur Kohlekraftwerke mit einer CO2-Abscheidung auszurüsten, sondern

auch Anlagen, die nicht-fossile Biomasse wie Holz oder Stroh verheizen.

Das Kohlendioxid, das die Pflanzen zuvor der Atmosphäre entzogen haben,

käme so nicht mehr in den Kreislauf zurück. Viel Zeit bleibe

allerdings nicht mehr, mahnt der Kanadier: “Wir können nicht auf einen

weiteren Uno-Klimareport in fünf Jahren warten, wir müssen jetzt

handeln.”

Für ihre Studie nutzten

die Forscher aus British Columbia ein sogenanntes EMIC, ein Erdsystem-Modell

mittlerer Komplexität, entwickelt an der University of Victoria. Es

stellt die Atmosphäre zwar nicht so präzise dar wie die heute

besten globalen Zirkulationsmodelle, kann dafür aber mit vertretbarem

Zeitaufwand das Klima für mehrere Jahrhunderte simulieren. Weaver

hebt zudem hervor, dass es über einen dynamischen Kohlenstoff-Kreislauf

verfüge und damit leistungsfähiger sei als vergleichbare Modelle,

wie sie für den jüngsten Bericht des Uno-Klimarats IPCC verwendet

wurden.

Zum Auftakt ihrer Simulation

pumpten die Kanadier ähnliche Mengen Kohlenstoff in ihre Modellatmosphäre,

wie sie heute in der Realität auftreten – etwa neun Milliarden Tonnen

pro Jahr. Daraufhin errechneten sie zehn verschiedene Entwicklungsszenarien

für die nächsten vier Jahrzehnte, mit globalen Treibhausgas-Reduktionen

zwischen null und hundert Prozent. Das 2050 erreichte Emissionsniveau wurde

dann jeweils bis zum Modelljahr 2500 konstant gehalten.

Klimaforscher Meinshausen:

Studie hat Schwächen

Darin sieht der deutsche

Klimaforscher Malte Meinshausen eine Schwäche der neuen Studie. “Sie

beantwortet nicht die Frage, welche Temperatur wir erwarten können,

wenn wir 50 Prozent Emissionsreduktion bis 2050 schaffen und anschließend

die Emissionen weiter absenken”, sagte der Umweltwissenschaftler vom Potsdam-Institut

für Klimafolgenforschung (PIK) zu SPIEGEL ONLINE. Laut Meinshausen,

der auf demselben Gebiet forscht wie Weaver, “haben wir durchaus eine Chance,

unter zwei Grad zu bleiben, wenn wir 2050 nicht abrupt mit unseren Klimaschutzanstrengungen

aufhören”. Die Wahrscheinlichkeit dafür liege bei 50 Prozent

oder knapp darüber. Andere Modelle hätten das gezeigt. Allerdings:

Eine 50-prozentige Chance wirkt nicht eben beruhigend.

Meinshausen mag zwar optimistischer

sein als sein Kollege jenseits des Atlantiks. Aber auch dem Potsdamer Experten

ist klar, dass das Zwei-Grad-Ziel nur mit allergrößten Anstrengungen

der Industrie- und Schwellenländer zu erreichen sein wird. “Dass wir

langfristig auf Niveaus von minus 90 Prozent und niedriger kommen müssen”,

bestreite er “ganz und gar nicht”, sagt Meinshausen. Seine Vision ist noch

radikaler: “Wir müssen uns auf eine Null-Emissionsgesellschaft bis

zum Jahr 2100 einstellen.”

 

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