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Spiegel

online 07.03.08

FELSANALYSE

Antarktis-Eis schmilzt

ungewöhnlich schnell

Von Markus Becker

Die rapide Gletscherschmelze

in der westlichen Antarktis beunruhigt Wissenschaftler. Ob der Mensch verantwortlich

ist, war bisher unklar – jetzt legen Forscher erstmals Daten über

das Schrumpfen des Eispanzers in den vergangenen Jahrtausenden vor. Sie

untermauern schlimmste Befürchtungen.

Es muss gewaltig gekracht

haben im vergangenen Herbst, als ein gigantischer Eisberg von der Zunge

des Pine-Island-Gletschers abbrach. Rund ein Jahr lang hatte es in der

Antarktis gerummst und geknirscht, bis der Riese endlich losbrach und in

den Ozean trieb. Mit einer Größe von 20 mal 34 Kilometern Größe

erreichte er nahezu die Landfläche von New York City.

Das spektakuläre Schauspiel

des Eisberg-Kalbens hat in den vergangenen Jahren geradezu unheimliche

Ausmaße angenommen. Die großen Schelfeis-Platten der Westantarktis,

die vor dem auf dem Festland ruhenden Eisschild im Wasser liegen, zerbröseln

zusehends – und die dahinter liegenden gewaltigen Gletscher rutschen immer

schneller Richtung Meer. Sollte die Eisschmelze weiter bestehen oder sich

gar beschleunigen, könnte der Anstieg der Meeresspiegel nach Ansicht

von Wissenschaftlern katastrophale Ausmaße annehmen.

Während aber das Tauwetter

in der Arktis eindeutig mit dem von Menschen verursachten Klimawandel in

Verbindung gebracht wird, ist das Bild in der Antarktis weniger klar. Im

Westen des Kontinents taut es an allen Ecken und Enden, im Osten aber tut

sich wenig. Was den Schelfeis-Kollaps in der Westantarktis auslöst,

ist ebenso umstritten wie die Frage, ob das überhaupt ungewöhnlich

ist. Denn die Satellitenmessungen der Eishöhe begannen erst Anfang

der achtziger Jahre. Über die Entwicklung des Westantarktischen Eisschilds

seit der letzten Eiszeit vor etwa 16.000 Jahren war sonst kaum etwas bekannt.

Jetzt haben Forscher erstmals

solche Daten vorgelegt. Joanne Johnson und Michael Bentley vom British

Antarctic Survey sowie Karsten Gohl vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut

(AWI) haben in Felsen nach dem chemischen Element Beryllium gesucht, genauer

gesagt nach dessen Isotop Beryllium-10. Es entsteht, wenn Gestein vom Eis

befreit und dadurch kosmischer Strahlung ausgesetzt wird. Anhand der Zerfallszeit

des radioaktiven Isotops lässt sich feststellen, seit wann das Gestein

freiligt. Die Methode wird seit Jahren benutzt, um den Rückzug von

Gletschern zu datieren.

Johnson und ihre Kollegen

haben an vier Stellen am Smith-, Pope- und Pine-Island-Gletscher Felsen

auf ihren Beryllium-10-Gehalt analysiert. Die Daten, schreiben die Forscher

im Fachblatt “Geology”, stellen den derzeitigen Masseverlust des Westantarktischen

Eisschilds erstmals in den zeitlichen Kontext der vergangenen Jahrtausende.

Und sie bestätigten, was Wissenschaftler seit langem befürchteten:

Die Gletscher verlieren “ungewöhnlich schnell” an Stärke, heißt

es in dem Papier.

Der Pine-Island-Gletscher

ist demnach in den vergangenen 4700 Jahren im Schnitt um 3,8 Zentimeter

pro Jahr dünner geworden. Für den Smith- und den Pope-Gletscher

ergab sich eine Rate von nur 2,3 Zentimetern pro Jahr in den vergangenen

14.500 Jahren. Das ist nichts im Vergleich zu den Werten der jüngsten

Vergangenheit: Satellitenmessungen zwischen 1992 und 1996 haben etwa für

den Pine-Island-Gletscher einen Verlust von 1,6 Metern Dicke pro Jahr ergeben

– was dem 42-Fachen des Durchschnitts der vergangenen 4700 Jahre entspricht.

Zufall oder vielsagendes

Timing? Das verräterische Zusammentreffen von Antarktis-Tauwetter

und Klimawandel

Allerdings räumen die

Autoren des “Geology”-Artikels ein, dass ihre Daten keine endgültige

Aussage darüber treffen können, ob die rapide Eisschmelze in

der Westantarktis nun mit dem vom Menschen verursachten Klimawandel zu

tun hat oder nicht. “Wir haben Durchschnittswerte über die vergangenen

Jahrtausende errechnet”, erklärte AWI-Forscher Gohl im Gespräch

mit SPIEGEL ONLINE. Zeiträume von Jahrzehnten könnten die Daten

aber nicht auflösen. Deshalb sei nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen,

dass es seit der letzten Eiszeit kurze Tauwetter-Perioden gegeben hat,

die ähnlich stark waren wie die jetzige. Man müsse mehr Proben

in der Antarktis sammeln, um noch genauere Ergebnisse zu erhalten, betonte

Gohl.

Dennoch sei das zeitliche

Zusammenfallen von Antarktis-Eisschmelze und anthropogenem Klimawandel

nicht von der Hand zu weisen. Auch Eric Rignot vom Jet Propulsion Laboratory

der Nasa, einer der weltweit führenden Forscher auf dem Gebiet der

Eisvermessung per Satellit, mag nicht an einen Zufall glauben. Allein die

bloße Geschwindigkeit des Gletscherschwunds in der Westantarktis

habe viele Wissenschaftler bereits vermuten lassen, dass hier etwas Außergewöhnliches

geschieht. “Diese Gletscher hätten in der Vergangenheit niemals länger

als einige Jahrzehnte in diesem Tempo ausdünnen können”, erklärte

Rignot gegenüber SPIEGEL ONLINE.

“Klarer Zusammenhang mit

dem Klimawandel”

Die Studie von Johnson und

ihren Kollegen sei eine “sehr solide Bestätigung” für die Annahme,

dass die derzeitigen Veränderungen nicht auf einen Langzeit-Gletscherschwund,

sondern auf aktuelle Einflüsse zurückzuführen sind. “Sie

stehen in klarem Zusammenhang mit dem Klimawandel”, sagte Rignot. Auch

andere Forscher betonten den Stellenwert der Studie. Klaus Grosfeld vom

AWI hält sie für einen “wichtigen Beitrag” zur Bestandsaufnahme

des Antarktis-Eisschilds. Geografie-Professor Jonathan Bamber von der University

of Bristol nannte die Untersuchung “essentiell” für die Kalibrierung

von Computermodellen für die Antarktis.

Welche Ursachen aber der

antarktische Gletscherschwund hat, ist damit nicht abschließend geklärt.

Sicher ist, dass die Meeresoberfläche um die Antarktis wärmer

wird – nicht aber, warum das geschieht. So könnte etwa das vermehrte

Aufsteigen des sogenannten zirkumpolaren Tiefenwassers, das bis zu 1,5

Grad wärmer ist als das übrige Wasser, für das Abschmelzen

der Gletscher verantwortlich sein – oder aber auch ein direktes Aufheizen

des Wassers im Zuge des Klimawandels. Schneefälle, die Entstehung

von Schmelzwassertümpeln und vulkanische Aktivität könnten

ebenfalls wichtige Rollen spielen.

Deshalb ist auch offen, wie

sehr das Tauwetter in der Antarktis in Zukunft zum Anstieg der Meeresspiegel

beitragen wird. Dass sie das tun, gilt als gesichert. Im März 2007

bezifferte ein Forscherteam den Nettoverlust an Eis in Grönland und

der Antarktis auf 125 Gigatonnen pro Jahr. Damit trage das abschmelzende

Festlandeis der Polargebiete rund zehn Prozent zum Anstieg der Meeresspiegel

bei, der derzeit etwa drei Millimetern pro Jahr liegt.

Das aber könnte längst

nicht alles sein, wie Rignot erklärt. Laut den jüngsten Untersuchungen

seines Teams, die demnächst im Fachblatt “Geophysical Research Letters”

erscheinen sollen, seien die Westantarktis-Gletscher in den Jahren 2006

und 2007 schneller als je zuvor in Richtung Meer gerutscht. “Einfache Modelle

sagen voraus, dass das erst der Anfang ist”, so Rignot. “Diese Gletscher

könnten ihre Fließgeschwindigkeit in den nächsten Jahren

leicht verdoppeln.” Die neue Studie von Johnsons Team zeige, “dass die

Zukunft schon da ist”.

 

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