Zweifellos war dieser Mann eine polarisierende Gestalt. Einige Quellen erwähnen nur Abfälliges über sein Werk, er wird als Rassist, Verrückter, als Loser, Dieb oder Betrüger bezeichnet. In anderen Artikeln ist er ein Volksheld, ein Prophet, eine integrierende Befreiungsfigur und ein Mensch, dessen selbstloses Schaffen darauf abzielte, entwurzelten Menschen Selbstbewußtsein zu geben. Wer war dieser Mann wirklich?
Das ausgehende 19. Jahrhundert war die Epoche nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei. Die Lebensbedingungen in der Karibik wurden durch eine hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, Hunger, Unterernährung, schlechte Ausbildung und die Unterdrückung der Bevölkerung, insbesondere der afrikastämmigen Menschen, charakterisiert. Jamaika gehörte nach wie vor zum British Empire, was die dominante Position der weißen Kolonialherren weiterhin garantierte. Die Sozialstruktur Jamaikas bestand derzeit aus drei Schichten: den europäischen Kolonialbeamten, den Pflanzern und ihren Familien an der Spitze, darauf folgend den „Mulatten“ oder Mischlingen und am unteren Ende den Nachkommen der aus Afrika verschleppten Sklaven. Mit 14 Jahren verließ Garvey die Schule, weil seine Eltern zu arm waren, ihm eine weitere Ausbildung zu finanzieren. Er begann eine Druckerlehre in seinem Heimatort. Er arbeitete mit 16 in einer Druckerei in Kingston, Jamaikas Hauptstadt. Dort entwickelte er sein charakteristisches Gefühl für soziale Angelegenheiten. Er profitierte von der Druckerlehre, die ihm den Zugang zu Printprodukten erleichterte. 1907 führte er in Kingston einen Druckerstreik um höhere Löhne an.
1912 reiste er zu seiner Schwester nach England und vertiefte dort sein Interesse für afrikanische Geschichte und Kultur, die oft von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bestimmt war. Zusätzlich lernte er viel durch seine Kontakte zu sozialistischen Politikern und durch sein Studium der Befreiungskämpfe anderer Völker. 1914 befand Garvey sich auf einem Schiff auf dem Rückweg nach Jamaika. Er dachte über sein persönliches Schicksal und Bestimmung der schwarzen Menschen in der Neuen Welt im Allgemeinen nach und überlegte sich, welche Rolle er für eine Verbesserung der Situation spielen könnte. Auf seinen Reisen hatte er Afrikaner getroffen, die in Afrika lebten und ihm von den Bedingungen auf dem Kontinent berichteten. Er war ein Verehrer des schwarzen amerikanischen Bürgerrechtlers Booker T Washington. Aus diesen Quellen wußte er, daß die Lebensbedingungen für schwarze Menschen überall auf der Welt die gleichen waren. Er stellte sich Fragen, wie: „Wo ist die Regierung des schwarzen Mannes? Wo sind der schwarze König und sein Königreich? Wo sind die wichtigen und einflußreichen schwarzen Persönlichkeiten? Wo sind seine Armee, seine Flotte, seine Waffen und Schiffe?“
Auf Jamaika angekommen zögerte er nicht lange und gründete die Universal Negro Improvement Association (UNIA) und die African Communities League. Er sah die UNIA als das Instrument für den Wiederaufbau des schwarzen Hauses, das kollabiert war, weil es nicht für Katastrophen gerüstet war. Garvey setze alle Energie daran, dieses Haus von seinen Grundfesten auf zu erneuern. Er äußerte den Leitsatz: „Africa for the African at home and abroad.“ 1916 zog Garvey nach New York und gründete die Wochenzeitung Negro World. Als charismatischer Redner und brillianter Autor begann er, die amerikanischen Schwarzen zu überzeugen, stolz auf ihre Hautfarbe zu sein, und predigte ihre Rückkehr nach Afrika, dem Heimatland ihrer Vorfahren. Zu diesem Zweck gründete er 1919 die Black Star Line, eine Schiffahrtsgesellschaft, und erwarb mehrere Dampfschiffe. Dazu kam die Negro Factories Corporation, die wirtschaftliche Unabhängigkeit unter den Schwarzen fördern sollte. Garvey fand Zehntausende Anhänger und brachte die UNIA, laut unterschiedlichen Quellen, auf zwei bis sechs Millionen Mitglieder. Seine Unternehmen erlitten mehrere schwere wirtschaftliche Rückschläge, und die Umsetzung des Repatriierungsprogramms scheiterte am Widerstand der Regierung Liberias. Die Periode zwischen den zwei Weltkriegen war für einen Menschen, der in der internationalen Politik für die Rechte der Schwarzen eintrat, nicht einfach. Er wurde von Neidern, Individuen, Regierungen und Organisationen, teilweise von Mitkämpfern aus den eigenen Reihen gefürchtet und verleumdet.
1922 hatte UNIA sechs Millionen zahlende Mitglieder und war eine nicht zu unterschätzende politische Kraft geworden, die mit diversen Organisationen und Individuen, u.A. dem Ku Klux Klan über die Finanzierung der Repatriierung nach Afrika Verhandlungen führte. Vermutlich wegen dieser Machtposition wurde Garvey wegen angeblicher Veruntreuung der Gelder der Black Star Line verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In dieser Zeit schrieb er seine kurze Autobiographie „I, Marcus Garvey“. In einem Kernsatz dieses Buches findet man seine Interpretation für die Hintergründe seiner Inhaftierung: „Such fame (as being achieved by myself) was too much for other race leaders and politicians to tolerate. My downfall was planed by my enemies. They laid all kind of traps for me. They scattered their spies amongst the employees of the Black Star Line and the UNIA.” Ihm persönlich hat diese Erkenntnis nichts genutzt, er verlor seinen gesamten Besitz, seine Firmen und sein Kapital und wurde 1927 nach Jamaika abgeschoben. Dort gelang es ihm nicht, die UNIA wieder aufzubauen. Im selben Jahr machte er während einer Rede in Kingston die Aussage, welche in den Dreißiger Jahren die bis heute international weiter wachsende Bewegung der Rastafarians initiierte: „ Look to Africa where a king would be crowned, for the day of deliverance is near.“ Als im Jahre 1930 Haile Selassie als der biblische Negusa Nagast gekrönt wurde, entwickelten sich auf Jamaika die ersten Rastakommunen. Garvey wird von den Rastafarians mit Johannes dem Täufer verglichen, der das Erscheinen Gottes / Jesus auf der Erde vorhersagte.
Auch wenn er sein Leben ausschließlich für die schwarzen Menschen dieses Planeten geopfert hat. waren er oder seine Organisationen nie rassistisch eingestellt. Anders lautende Aussagen entkräftet er in seiner Autobiographie: „The UNIA has been misrepresented by my enemies. They have tried to make it appear that we are hostile to other races. This is absolutely false. We love all humanity. We are working for the peace of the world.” Jamaikas postkoloniale Regierung hat die Größe dieses, ihres Staatsbürgers erkannt und ließ seinen Leichnam 1963 zur endgültigen Bestattung im National Shrine of Jamaika überführen. Marcus Garvey ist post mortem zu einem Nationalhelden seines Heimatlandes erklärt worden.
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