Drogenpolitik:
Das Verbot von Cannabis ist ein “kollektiver Irrweg”
von Dr. med.
Carl Nedelmann
Der
Autor vertritt die These, dass der Konsum von Cannabis keinen ernsthaften
Schaden nach sich zieht weder körperlich noch seelisch, weder akut
noch chronisch. Das Cannabis-Verbot könne daher nicht durch medizinische
Argumente gestützt werden.
Das Bundesverfassungsgericht
hat 1994 die Ansicht vertreten, dass die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes
geeignet sind, die von Cannabis ausgehenden Gefahren zu verringern und
die Verbreitung der Droge zu beschränken. Diese Ansicht wid von der
Realität widerlegt: Die von Cannabis ausgehenden Gefahren sind geringer
als die der legalen Drogen Alkohol und Nikotin. Die Verbreitung der Droge
wird durch das Verbot nicht beschränkt, sondern sogar gefördert.
Der Rechtsphilosoph Michael Köhler kam zu der Einschätzung, dass
das Cannabis-Verbot ein “kollektiver Irrweg” ist, der “nicht guten Gewissens
weitergegangen werden kann” (5).
Holland: Zahl der Drogentoten
gesunken
Das Beispiel Holland zeigt,
was passiert, wenn nicht nur der unmittelbare Konsum, sondern auch der
Handel von Cannabis freigegeben wird: Dort gibt es Coffeeshops, wo der
Verkauf kleiner Mengen geduldet wird. Die Zahl der Cannabis-Konsumenten
ist dadurch nicht wie vielfach befürchtet gestiegen, sondern sogar
zurückgegangen. Obwohl die Märkte für weiche und harte Drogen
weitgehend getrennt sind, ist auch die Zahl der Konsumenten harter Drogen
zurückgegangen. Die Zahl der Drogentoten ist gesunken.
Zurück nach Deutschland:
1971 hat der Gesetzgeber Cannabis dem Betäubungsmittelgesetz mit dem
Argument unterstellt, “es wäre nicht zu verantworten, die Droge jetzt
frei zu geben”; man erwartete jedoch aufgrund medizinischer Forschung,
“dass man in etwa fünf Jahren zu konkreteren Ergebnissen gelangen
wird.” 1994 hielt das Bundesverfassungsgericht daran fest, das Cannabis-Verbot
vor dem Grundgesetz mit medizinischen Argumenten zu verteidigen, und schrieb
in der Begründung: “Obwohl sich … die von Cannabisprodukten ausgehenden
Gesundheitsgefahren aus heutiger Sicht als geringer darstellen, als der
Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes angenommen hat, verbleiben dennoch
auch nach dem jetzigen Erkenntnisstand nicht unbeträchtliche Gefahren
und Risiken.”
Die im Betäubungsmittelgesetz
hergestellte Nähe zu den Opiaten konnte jedoch keine Glaubwürdigkeit
mehr finden. Das Bundesverfassungsgericht entschloss sich daher, Cannabis
zur besseren Einschätzung mit Alkohol zu vergleichen. Da Alkohol ein
Genuss- und Suchtmittel ist, fordert der Vergleich zum einen Antworten
auf die Fragen nach Sucht und Abhängigkeit generell. Die Fragen reichen
vom akuten Rausch bis zu den Folgen des chronischen und des exzessiven
Gebrauchs.
Zum andern fordert der Vergleich
mit Alkohol Antworten auf die Fragen nach dem Genuss. Was ist Cannabis
als Genussmittel? Hält es auf primitiver Stufe fest? Ist es sublimierungsfähig,
also ein Rauschmittel, das sich unserer Kultur angleichen kann? Schliesslich
ist zu fragen, ob der Meinungsstreit über Cannabis nicht auf dem Missverständnis
beruht, dass die Medizin über Legalität oder Illegalität
entscheiden müsste. Das ist nicht ihre Aufgabe; die Medizin ist verantwortlich
für die erhobenen Befunde und welches Ausmass sie haben. Vier umfangreiche
Publikationen gewähren einen Überblick, wie er bisher nicht möglich
war. Die erste ist eine im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erstellte
Expertise, die die Forschungsliteratur zu pharmakologischen und toxikologischen
Wirkungen sowie zu psychosozialen Konsequenzen des Cannabis-Konsums untersucht
(1). Die zweite Publikation, gefördert vom Bundesgesundheitsministerium,
präsentiert die Ergebnisse einer empirischen Forschung, der eine umfangreiche
Befragung von 1 458 cannabiserfahrenen Personen zugrunde liegt (2). Die
dritte Veröffentlichung ist dem Spezialproblem Cannabis im Strassenverkehr
gewidmet. Es ist ein Sammelband, in dem grundlegende medizinische, psychologische
und juristische Aspekte abgehandelt werden (3).
Die vierte Publikation ist
ein Handbuch zur Suchtmedizin (4).
Unterschiedliches Konsumverhalten
Cannabis wird in der Erwartung
konsumiert, Verstimmungen zu beheben, Spannungen zu lindern, Genüsse
des Hörens, Sehens, Fühlens und Spürens zu intensivieren
oder eine andere Art des Denkens zu geniessen. Zu unterscheiden ist der
vernünftige Gebrauch, in dem das rechte Mass eingehalten wird, vom
unvernünftigen Gebrauch, der bis zur akuten Intoxikation oder bis
zum chronischen Exzess führt. Zu unterscheiden ist ausserdem zwischen
Anfängern, die ausprobieren, und erfahrenen Konsumenten, die präzise
Erwartungen haben. Anfänger empfinden Cannabis-Konsum als Abenteuer
und Wagnis. Sie wissen nicht, worauf sie achten müssen. Sie kennen
die feinen Zeichen des Rausches nicht und nehmen häufig zu viel. Der
Konsum hat ihnen keine Lust gebracht, manchen sogar quälende Unlust.
Dies erklärt, weshalb zwei Drittel derer, die Cannabis probieren,
es bald wieder aufgeben. Problematisch sind die gewohnheitsmässigen
Dauer-Konsumenten. Sie haben mit 23,5 Jahren nicht nur das niedrigste Durchschnittsalter,
sondern auch am frühesten mit dem Konsum von Cannabis begonnen (Mittel:
15,9 Jahre). Sie konsumieren Cannabis bis zu viermal pro Tag, meist um
sich vorübergehend aus Angst und Lebensnot befreit zu fühlen.
Wer vor schädlichen Folgen des Cannabis-Konsums warnt, bezieht sich
auf die Gruppe dieser exzessiven Konsumenten.
Erfahrene Cannabis-Konsumenten
sorgen für hinreichend gute äussere Umstände und werden
von den Wirkungen der Droge nicht überrascht. Wie es Alkohol-Geniesser
gibt, so gibt es Cannabis-Geniesser. Die Forschungsergebnisse lassen es
zu, auf einem vergleichbaren Niveau des Genusses den Cannabis-Rausch zu
beschreiben. Der Rausch ist nach vier Stunden verflogen. Cannabis wird
in den allermeisten Fällen inhaliert und zielt unmittelbar auf den
Genuss des Rausches, der sofort oder nach wenigen Minuten eintritt. Seine
Tiefe kann daher in der Einnahmephase kontrolliert werden. Nach einer Stunde
lässt die Wirkung nach, hält sich noch eine weitere Stunde und
verschwindet dann allmählich. Nach drei, höchstens vier Stunden
ist sie verflogen. Das macht den Cannabis-Rausch besser kontrollierbar
und kalkulierbar als den Alkohol-Rausch. Ein entscheidendes Charakteristikum
des Cannabis-Rausches ist die veränderte Wahrnehmung. Äussere
und innere Anforderungen sorgen bei Nüchternheit für gezielte
Aufmerksamkeit. Unter dem Einfluss des Cannabis-Rausches intensiviert und
erweitert sich die Wahrnehmung. Die gezielte Aufmerksamkeit lässt
nach, sonst wenig Bemerktes kann in die Wahrnehmung einfliessen. Ungestörtes
Eingehen auf sonst weniger zugängliche Realien, Fantasien und Stimmungen
und auf freieres Denken wird durch zwei Eigenschaften des Cannabis-Rausches
gefördert. Zum einen wird die Zeit anders erlebt. Sie erscheint gedehnt.
Bei angespannter, verantwortungsvoller Berufstätigkeit, bei Sorgen
oder bei Kummer, aber auch um der puren Lust willen kann das Gefühl,
vorübergehend auf einer Insel der Zeitlosigkeit zu leben, zu den besonderen
Erwartungen gehören, die Cannabis zum Genuss machen. Zum anderen bleibt
im Cannabis-Rausch das Bewusstsein des Rausches erhalten. Es ist jederzeit
möglich, die vollständige Kontrolle über das eigene Verhalten
herzustellen.
Folgen
Im
Rahmen des gelegentlichen oder regelmässigen Freizeitkonsums, selbst
wenn er die Frequenz von zweimal pro drei Tagen erreicht, entsteht durch
Cannabis keine Sucht und keine Abhängigkeit und ist mit gesundheitlichen
Schäden nicht zu rechnen. Dieses Fazit der Wissenschaft steht fest.
Wird Cannabis exzessiv konsumiert, entstehen ausser Toleranz-Erscheinungen
keine Zeichen einer Sucht. Entsteht eine Abhängigkeit, kann sie leichter
überwunden werden als beim Alkohol; denn die Entzugssymptome sind
flüchtig und klingen innerhalb von Stunden, höchstens von Tagen
ab. Es gibt keine somatischen Befunde von Belang. Die psychischen Befunde,
die bisher in der medizinischen und dann auch in der juristischen Cannabis-Diskussion
die Hauptrolle gespielt haben, sind widerlegt oder so sehr relativiert
worden, dass sie als Gesundheitsgefahren, die der Gesetzgeber respektieren
müsste, nicht in Frage kommen.
Löst Cannabis Psychosen
aus? Neuere Studien fanden keine Hinweise für eine charakteristische
Psychopathologie bei Cannabis-Konsumenten, die die Diagnose einer eigenständigen
“Cannabis-Psychose” rechtfertigen würden.
Kann Cannabis-Konsum Stunden,
Tage oder Monate später einen Flash-Back (Echo-Rausch) auslösen?
Eine solche Kausalität lässt sich wissenschaftlich nicht belegen,
spielt aber praktisch eine immense Rolle, wenn auch nicht mehr im Strafrecht
und Strafgericht, so doch im Verwaltungsrecht und in Verwaltungsmassnahmen.
Macht Cannabis abhängig?
Nach den strengen Kriterien der medizinischen Definition der Abhängigkeit
macht Cannabis-Konsum ohne den gleichzeitigen Konsum anderer Rauschmittel
zwei Prozent der Konsumenten abhängig. Jedoch spricht in diesen Fällen
viel dafür, dass nicht Cannabis die Abhängigkeit bewirkt, sondern
dass ungünstige Lebensumstände und -einstellungen dafür
verantwortlich sind. In dieser Sichtweise erscheint die Abhängigkeit
von Cannabis als ein Symptom, dessen Ursache nicht in einer substanzimmanenten
Gefahr, sondern in psychischen Problemen liegt.
Ist Cannabis eine Einstiegsdroge?
Diesem Argument liegt ein Fehlschluss zugrunde. Aus dem Befund, dass Heroin-Süchtige
zuvor Cannabis konsumiert hatten, war geschlossen worden, dass Cannabis
den Weg bahnt. In der epidemiologischen und in der klinischen
Forschung gibt es für
diesen Umkehrschluss keinen Beleg.
Führt Cannabis zu einem
amotivationalen Syndrom? Auch bei Störungsbildern, die durch Passivität
und Leistungsverweigerung gekennzeichnet sind, stellt sich die Frage nach
Ursache und Wirkung. In genügend kontrollierten Studien erscheint
Cannabis nicht als Risikofaktor für Demotivationserscheinungen.
Verkehrssicherheit. In der
ersten Stunde nach Rauschbeginn sind deutliche Leistungsdefizite festzustellen.
Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass in dieser Zeit Auto gefahren wird.
Die Erklärung liegt in der Kalkulierbarkeit des Rausches. Der Beginn
ist bestimmbar. Will der Konsument den beabsichtigten Rausch auch auskosten,
wird eine Teilnahme am Strassenverkehr während dieser Zeit eher unwahrscheinlich.
Dies wird durch Befragung zur Fahrbereitschaft bestätigt. Schon in
der zweiten Stunde nach Rauschbeginn bessern sich die Leistungsdefizite.
In der vierten Stunde zeigen sich keine signifikanten Verschlechterungen
mehr. Es gibt Resultate, die andeuten, dass häufige Cannabis-Konsumenten
schneller zu ihrer Ausgangsleistung zurückfinden als seltene Konsumenten.
Die Verkehrsmedizin hat experimentell bestätigt, dass durch Cannabis
bedingte Leistungsdefizite, wie sie für das Autofahren relevant sind,
durch Kontrollfunktionen, durch Anstrengungen in anderen Bereichen, so
gut ausgeglichen werden, dass das Unfallrisiko durch Cannabis-Einfluss
verringert wird, also nicht zu-, sondern abnimmt. In einer Feldstudie von
1994 fuhren 0,5 Prozent der Fahrer mit Alkohol ab 0,8 Promille BAK. Ebenso
viele fuhren mit Cannabis-Konzentrationen, die auch von wochenlang zurückliegendem
Konsum stammen konnten. Die Alkoholiker waren an 11,2 Prozent aller Unfälle
mit schwerem Sach- oder Personenschaden beteiligt. Die Cannabis-Fahrer
lagen nach Unfallhäufigkeit und -schwere unter oder höchstens
im Normbereich. Die Praxis des Verwaltungsrechts jedoch, die für die
Fahrerlaubnis zuständig ist, hat Cannabis, als wäre Cannabis
mit LSD vergleichbar, den Halluzinogenen unterstellt und damit der Hypothese
vom Flash-Back zu neuer Wirksamkeit verholfen. Zwar ist in der neuesten
Auflage des Gutachters “Krankheit im Kraftverkehr” (6), dessen Leitlinien
die Praxis bestimmen, der spezielle Hinweis auf die Flash-Back-Gefahren
gestrichen worden, aber die Behauptung ist erhalten geblieben, indem von
einem “besonderen Wirkungsverlauf” die Rede ist, der “jederzeit unvorhersehbar
und plötzlich” die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann.
Mit dieser Behauptung kann die Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges
verneint werden, wenn eine regelmässige Einnahme von Cannabis vorliegt.
Was ist regelmässiger
Konsum? Da Fahren unter Cannabis kein vermehrtes Unfallrisiko auslöst,
macht es im Hinblick auf die Verkehrssicherheit keinen Sinn, eine Grenze
zwischen gelegentlichem und regelmässigem Konsum festzulegen. Die
Führung in der Cannabis-Verfolgung haben das Verwaltungsrecht und
die Toxikologie übernommen. Die Verwaltung droht mit Führerschein-Entzug,
die Toxikologie liefert die Nachweise. Das Zusammenspiel der Fächer
ist inzwischen so weit gediehen, dass zu einer einjährigen Abstinenz,
unwürdige Unterwerfung darin eingeschlossen, gezwungen werden kann,
wer auffällig geworden war und nun den Führerschein wieder begehrt.
Den Konsum-Gewohnheiten nach trifft es hauptsächlich Jugendliche und
junge Erwachsene. Die Verbürgung der Verhältnismässigkeit
der Mittel wird verletzt und Glaubwürdigkeitspotenziale werden aufs
Spiel gesetzt. Da Cannabis-Einflüsse die Sicherheit des Strassenverkehrs
nicht gefährden, gibt es eigentlich keinen Strafgrund, noch nicht
einmal durch Fahren im akuten Rausch. Da aber die selektive Wahrnehmung,
die für sicheres Autofahren unerlässlich ist, durch den Rausch
geschwächt wird, lässt sich insoweit medizinisch ein Strafgrund
vertreten.
Resümee
Die medizinischen Argumente,
die zur Aufrechterhaltung des Cannabis-Verbotes verwendet worden sind,
stammen aus Befunden schwerer Pathologie. Dabei ist allerdings zu beachten,
dass Schäden, die Alkohol anrichtet, schwer, häufig und anhaltend
sind; Schäden, die Cannabis anrichtet, sind leicht, selten und flüchtig.
Aus medizinischer Sicht wird kein Schaden angerichtet, wenn Cannabis vom
Verbot befreit wird. Das Cannabis-Verbot kann durch medizinische Argumente
nicht gestützt werden.
Literatur
1. Kleiber D, Kovar K-A:
Auswirkungen des Cannabiskonsums. Eine Expertise zu pharmakologischen und
psychosozialen Konsequenzen. Stuttgart: Wissenschaftliche
Verlagsgesellschaft, 1998.
2. Kleiber D, Soellner R:
Cannabiskonsum. Entwicklungstendenzen, Konsummuster und Risiken. Weinheim,
München: Juventa, 1998.
3. Berghaus G, Krüger
H-P (Hrsg.): Cannabis im Strassenverkehr. Stuttgart: Gustav Fischer, 1998.
4. Uchtenhagen A, Ziegigänsberger
W (Hrsg.): Suchtmedizin. Konzepte, Strategien und therapeutisches Management.
München, Jena: Urban & Fischer, 2000.
5. Köhler M: Freiheitliches
Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht. Zeitschrift für
die gesamte Strafrechtswissenschaft 1992: 3/9664.
6. Bundesministerium für
Verkehr: Krankheit und Kraftverkehr. Begutachtungs-Leitlinien des Gemeinsamen
Beirats für Verkehrsmedizin. Bonn, 1996.
Quelle: Deutsches Ärzteblatt
97, Heft 43 vom 27.10.00, Seite A-2833 [THEMEN DER ZEIT: Forum]
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Carl Nedelmann
Blumenau 92, 22089 Hamburg
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