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Feature

Front Line Records
ein Viertel Jahrhundert später

Es ist Mitte der Siebziger Jahre. In England verbrüdern sich Underdogs und Subkulturen, wie Punks und jamaikanische Einwanderer, sowie Anti-Rassismus Bewegungen gegen den viktorianischen Mief der britischen Gesellschaft, die sich im Griff der Rezession befindet. 
 
Dann knallts! Der Notting Hill Carnival, eine eigentlich völlig friedliche und völkerverbindende Millionenveranstaltung endet in Dread, Beat und Blood. Die Bobbies der englischen Hauptstadt hatten den Fehler gemacht, sich in das bunte Treiben der westindischen Kommune einzumischen. Dafür ernteten sie Steine, Molotowcocktails und bestimmt den einen oder anderen lockeren Zahn. 

Die Siebziger waren die Zeit des Schockens, Punks sprengten alle gesellschaftlichen Normen und entdeckten schnell, daß es neben ihnen auch andere gesellschaftliche Randfiguren gibt: die Rastafarians. 

< Ausschnitt aus dem Cover "Vital Dub - Well Charged"

In den Zielen dieser Jugendbewegungen – bspw. Kampf gegen das Establishment, auch Babylon genannt – gab es Schnittmengen und schon bald liefen Reggaetunes auf Punkveranstaltungen, die Clash produzierten mit Perry und Mikey Dread, Bob Marley schrieb den Tune „Punky Reggae Party“ und Don Letts, eine Ikone der Punkbewegung vermittelte zwischen Rastas und schrillen Irokesenträgern. Reggae cross di Atlantic an mek big tings a gwaan.
 
Und wie das mit Subkulturen ist, gibt es immer findige Geschäftsleute, die mit solchen gesellschaftlichen Facetten Geld zu verdienen versuchen. Einer von diesen Leuten war Richard Branson, Initiator und CEO der innovativen Virgin Records. Er hatte mit Künstlern, die nicht dem Mainstream zuzuordnen waren, viel Geld gemacht und war dadurch fähig und bereit, in diese neue, exotische Szene zu investieren. 

So kam es, daß neben Punk und Progressive Rock, dem Standardprogramm von Virgin 1976 das Sublabel „The Front Line“ gegründet wurde. Anders als bei Island Records, die Marley, Spear & Co groß machten, produzierte Front Line nicht selbst, sondern pumpte Kohle auf die Karibikinsel und ließ die dortigen Strukturen arbeiten. Das größte Stück von diesem Kuchen bekam Channel One ab und die Hausband The Revolutionaries (inkl. Sly & Robbie) produzierten 24/7 Rhythm um Rhythm, Tune um Tune. 



Sly und Robbie

Aber nicht nur die Exotik der Sounds von der Karibikinsel diente dem Entfachen des Interesses eines reggafremden Publikums, auch technische und qualitative Aspekte sollten die Produkte von The Front Line an den Mann bringen. So kann man auf einer Sleevenote den folgenden Text lesen: „The lively sound of ‘snap, crackle and pop‘ didn’t only come from a well known breakfast cereal in the mid 70‘s. As any Jamaican music lover long enough in the tooth to have a collection, ranging that far back will tell you, the normal sound quality of a West Indian pressed disc would make your hifi weep. Inferior vinyl, second hand 1950‘s plant bought dirt-cheap in the near-by continent of America, and most of all, penny pinching in all aspects of the recording from under paying the performers to using recycled master tape, brought about the disastrous play quality.“ 
 

Keith Hudson
Aus meiner Sicht kann so ein debiler Unsinn nur von einem Schreibtischtäter geschrieben sein, der von der Lebensrealität auf Jamaika keine Ahnung hat. Sonst wäre nämlich stantepede die Aufklärung erfolgt, daß Britannien als ehemalige Kolonialmacht an vielen dieser Verhältnisse mitschuld ist. Der Mann sollte wissen, daß gerade Jamaika mit seiner Musikerdichte, schon aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus, an hoher Qualität für die Produkte dieser Industrie interessiert war und ist. Aber nicht jeder hat so viel Kohle auf der Tasche, um damit in der Musikszene etwas zu bewegen, wie die europäischen und amerikanischen Musik-Majors.

U-Roy smoke it up

Naja, die Lösung kam mit Richard Bransons Front Line und dem antiimperialistischen Symbol der erhobenen Faust, die blutend einen Stacheldraht umklammert. Das Label pumpte Geld in den jamaikanischen Musikkreislauf und erntete eine Menge schöner Alben, in vielen Fällen Meisterwerke der jeweiligen Künstler. Bei der Auswahl der zu veröffentlichenden Werke wurden beide derzeit auf Jamaika existierende musikalische Lager berücksichtigt: die Sänger und die DJs. 
 
Virgin machte mit dieser Serie eine Menge Kohle und hat Reggae an die Ohren eines neuen, weißen Publikums gebracht. Plötzlich gabs Reggae in den Grabbeltischen der Einkaufszonen und in Ladenketten. Sauer stoßen dabei erneut die Sleeve Notes im 2002 neu aufgelegten Sampler „The Front Line“ auf: „Reggae music owes a great debt to the Front Line Label as without its faith in this music these voices from a down-trodden, dusty, and sometimes violent land would never have been able to be heard above the snap crackle and pop.“ 

< The Mighty Diamonds


 
Der Autor, Herr de Koningh, offenbahrt damit eine Haltung, die ohne Problem mit patriarchalisch bis kolonialistisch zu bezeichnen. Ich sehe das Ganze anders herum. Wir haben zu danken, für all die schöne Musik, die Messages, die Weisheit, die Alternativen und die Lyrik, die die jamaikanischen Künstler bereit waren mit uns Babyloniern, die streng ideologisch gesehen der „Feind“ sind, zu teilen.

Jetzt hat Virigin die Front Line Serie neu aufgelegt. Insgesamt sind 36 Originalalben, sowie eine Reihe von Compilations wieder erhältlich. Natürlich geht es dabei den Plattenbossen um die Wiederauflage guter Musik, das will ich garnicht bezweifeln. Ist es jedoch nicht noch ein weiterer Aspekt, der in die Denke dieser Entscheidungsträger einfließt? 


Prince Far I

 

Delroy Washington
Nämlich daß Roots Music derzeit eine Art Revival durchmacht und man gut mit altem Material ein bißchen was verdienen kann? Die Frage läßt sich auf die Schnelle nicht klären und ist für den Konsumenten von gutem Reggae auch marginal. Da zählt nur eins: Wo bekomme ich gute Reggaescheiben her? Und hier hat Virgin uns allen einen Gefallen getan, denn die Alben sind fast durchgehend erste Sahne und werden den Leuten, die mit Neo Roots aufgewachsen sind, hoffentlich die Wurzeln der Musik näher bringen. Wir haben uns eine Auswahl der Wiederveröffentlichungen angehört und stellen sie Euch im Folgenden detailliert vor: 

 
>> Diverse >> The Frontline (VirginFRONTCD 2)
>> Diverse >> Classics From The Front Line (Virgin CD VIP 125)
>> Abyssinians >> Arise (Virgin CDFL28) 
>> Big Youth >> Dread Locks Dread (Virgin CDFL 23)
>> Culture >> Cumbolo (Virgin CDFL 9)
>> Culture >> Harder Than The Rest (Virgin CDFL 3)
>> The Gladiators >> Proverbial Reggae (Virgin CDFL 31)
>> The Gladiators >> Sweet So Till (Virgin CDFL 30)
>> The Gladiators >> Trwenchtown Mixup (Virgin CDFL 10)
>> Keith Hudson >> Too Expensive (Virgin CDFL 27)
>> Gregory Isaacs >> Cool Ruler (Virgin CDFL 4)
>> LKJ >> Poet & The Roots - Dread Beat and Blood 
>> (Virgin CDFL 12)
>> Mighty Diamonds >> Deeper Roots & Dub (Virgin CDFL 26)
>> Mighty Diamonds >> Right Time (Virgin CDFL 18)
>> Prince Far I >> Long Life (Virgin CDFL 33)
>> Prince Far I  >> Message From the King (Virgin CDFL 7)
>> Tapper Zukie >> M.P.L.A. (Virgin CDFL 24)
>> Tapper Zukie >> Peace In The Ghetto (Virgin CDFL 25)
>> Twinkle Brothers >> Countrymen (Virgin CDFL 29)
>> Twinkle Brothers >> Praise Jah (Virgin CDFL 35)
>> U-Brown >> You Can't Keep A Goord Man Down (Virgin CDFL 32)
>> U-Roy >> Dread In A Babylon (Virgin CDFL 9007)
>> U-Roy  >> Rasta Ambassador (Virgin CDFL 13)
>> U-Roy >> Version Galore (Virgin CDFL 34)
>> Delroy Washington >> Rasta (Virgin CDFL 20)


Copyright Bilder: Virgin Records / Text / Layout:  Doc Highüz 2002 Zum Seitenanfang