RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

Spiegel

online 18.12.06

BEDROHLICHE

GLETSCHERSEEN

Killer

vom Dach der Welt

Von

Franziska Badenschier

Wassermassen

donnern zu Tal, wenn Gletscher

bröckeln: Von wenigstens 44 Gletscherseen im Himalaya geht diese

Gefahr

aus. Zehntausende Menschen sind bedroht, und die globale Erwärmung

verschärft die Lage. Forscher warnen: Künftig könnte es

alle zwei bis

drei Jahre Flutwellen geben.

“Tsunamis

from the Sky”

werden sie genannt und “Killers from the

Hills”: Flutwellen, die aus dem Himalaya zu Tale donnern. Mindestens 44

Gletscherseen hoch oben im größten Gebirge der Welt sind von

brüchigen

Gletschern bedroht. Mehrere Millionen Liter Wasser könnten

hinabstürzen, Geröll und Trümmer aus Fels und Eis

inklusive.

Zehntausende Menschen sind in Gefahr, zudem sind Straßen und

Kraftwerke

bedroht. Und es könnte noch schlimmer kommen.

Forscher

schlagen Alarm:

Alle 200 bis 300 Jahre habe es in der

Region blitzschnelle Fluten mit Katastrophen-Potenzial gegeben, doch

nun würden sie alle zwei bis drei Jahre kommen, sagt Arun Shrestha

vom

International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD) in

Nepal. Der Grund ist der gleiche, der die Polkappen schmelzen und den

Meeresspiegel steigen lässt: der Klimawandel und die damit

einhergehende Erderwärmung.

Schön und doch gefährlich: Gletscherseen im

Himalaya

Allein

zwischen 1977 und

2000 ist die Temperatur nach ICIMOD-Daten

um 0,09 Grad angestiegen – pro Jahr. Das klingt für Laien nach

wenig,

sei aber vier Mal schneller als die globale Erwärmung im gleichen

Zeitraum. “Einige kleinere Studien in dieser Region haben gezeigt, dass

die Gletscher weiter abschmelzen und die Gletscherseen in Zahl und

Größe zunehmen”, sagte Shrestha zu SPIEGEL ONLINE.

Denn

weil es im Himalaya

auch weiterhin wärmer wird, werden Hunderte

Gletscher in immer schnellerem Tempo schmelzen und somit

zurückweichen,

vor allem die kleineren. Zum Beispiel die Zunge des Gletschers Kongma

Tikpe in Nepal: Erst ging sie um 60 Zentimeter pro Jahr zurück

(1976

bis 1978), dann um zweieinhalb Meter pro Jahr (1978 bis 1989), und bei

der jüngsten Messung waren es jährlich schon rund zehn Meter

(1989 bis

2004).

Katastrophen-Beschleuniger

Erderwärmung

In den

Lücken und

Becken, die die schmelzenden Gletscherzungen

zurücklassen, sammelt sich das Schmelzwasser. Nur Steine und

Geröll,

das wallartig zur Endmoräne aufgeschüttet ist, hält den

Gletschersee an

Ort und Stelle – das aber nicht gerade stabil. So droht ständig

der

Kollaps. Etwa wenn ein dicker Brocken von der brüchig werdenden

Eiszunge abbricht und ins Wasser stürzt. Oder wenn ein Erdbeben

den

Endmoränen-Wall aufreißt. Dann läuft der Gletschersee

aus, eine

Flutwelle rollt talwärts.

Vor

acht Jahren gab es den

letzten großen Gletschersee-Ausbruch

(Glacier Lake Outburst Floods, kurz GLOF) im nepalesischen Teil des

Himalaya: Am 3. September 1998 donnerte vom Tam Pokhari eine Flutwelle

hinab, zwei Menschen starben. Seitdem gab es ICIMOD-Forscher Shrestha

zufolge zwei kleine Flutwellen: 2003 im Quellgebiet des Flusses Mardi

in Zentralnepal und diesen Sommer im Quellgebiet des Marsayngdi-Flusses

weiter westlich.

20 der

2323 Gletscherseen

in Nepal hält das ICIMOD für potenziell

gefährlich, im benachbarten Buthan 24 von 2674. Das ist allerdings

der

Stand aus dem Jahre 2001. Für diese Studie hatte ein Team um

ICIMOD-Direktor James Gabriel Campbell Landkarten, Satellitenbilder und

vor Ort aufgenommene Fotos ausgewertet. Studien, die den Status

aktualisieren könnten, gibt es bislang jedoch noch nicht. Trotzdem

sind

sich Campbell und seine Kollegen sicher: Heute, fünf Jahre

später,

könnte von noch mehr Gletscherseen diese Bedrohung ausgehen.

Der

Klimawandel macht die

Fluten aus der Höhe wahrscheinlicher,

gleichzeitig können sie größeren Schaden anrichten.

Denn in den

Quellgebieten der Himalaya-Flüsse werden zunehmend Infrastrukturen

aufgebaut, sagte Shrestha. Die Fluten kommen also nicht nur zu den

Menschen – die Menschen kommen auch Richtung Flut. Nun müssten die

Schwachstellen genau bewertet werden, so Shrestha, “denn sonst

können

wir nicht einschätzen, welchen Schaden die

Gletschersee-Ausbrüche

anrichten können”. Immerhin wurden in Nepal schon einige Menschen

und

Kraftwerke Opfer der Fluten.

“Wir

müssen dringend

Frühwarnsysteme aufbauen und Maßnahmen

ergreifen, um die Gefahr zu entschärfen”, sagt Shrestha. Das ist

aber

gar nicht so einfach, weil normalerweise keine Straßen zu den

Gletscherseen führen. Weil Schutzmaßnahmen Geld kosten – und

weil die

blitzschnellen Wassermassen keinen Halt vor Landesgrenzen machen.

Nur

der

gefährlichste See bekam ein Frühwarnsystem

So

entsprangen mehr als die

Hälfte der 25 Gletschersee-Fluten, die

bislang durch Nepal geschwappt sind, dem weiter nördlich gelegenen

Hochland der chinesischen Provinz Tibet. Afghanistan, Bangladesh,

Bhutan, Burma, China, Indien, Nepal, Pakistan gehören zu den

Ländern,

die von Himalaya-Fluten überrascht werden könnten. Deswegen

versucht

das ICIMOD gerade, ein Abkommen über ein regionales System zu

erreichen. Im Notfall sollen alle Länder gleichzeitig gewarnt

werden –

ähnlich wie die Pazifikanrainer im Tsunami-Fall.

Die

Wissenschaftler

argumentieren mit Beispielen wie dem aus dem

Februar 2005: Damals brandete eine Flut das Tal des Flusses Sutlej

durch den indischen Bundesstaat Himachal Pradesh herab, der an China

grenzt. Ein indisch-chinesisches Frühwarnsystem verhinderte eine

Katastrophe: Zwar wurden Brücken zerstört, viele Menschen

konnten aber

vor den aufbrausenden Wassermassen in Sicherheit gebracht werden.

Niemand kam ums Leben.

Doch

lediglich einer der 44

offiziell als gefährlich eingestuften

Seen wurde bislang mit Sensoren ausgestatten, die im Notfall

stromabwärts Alarmsirenen aufheulen lassen – der Tsho Rolpa, der

größte

und wohl gefährlichste Gletschersee in Nepal. Für das

Frühwarnsystem

und den Abflusskanal, der den Wasserpegel im Tsho Rolpa um bis zu drei

Meter senken kann, haben laut Shrestha die Weltbank und die

niederländische Regierung 3,5 Millionen US-Dollar (2,7 Millionen

Euro)

gezahlt. Den “Tsunamis from the Sky”, den “Killers from the Hills”

Einhalt zu gebieten, ist laut Shrestha “alles eine Frage des Geldes”.

Im

Moment können er

und seine Kollegen weder sagen, welcher der Seen

als nächstes überzuschwappen droht, noch wieviele

Hochrisikokandidaten

es mittlerweile im Schatten der Himalayagipfel gibt.

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