RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

 
Spiegel

online 03.06.07

KLIMAWANDEL IN DER ARKTIS

Überlebenskampf

auf dünnem Eis

Steigende Temperaturen bedrohen

viele Tierarten der Arktis, die sich speziell an das Leben zwischen Meer

und Eis angepasst haben. Der Fotograf Paul Nicklen hat Eisbären, Grönlandwale

und Walrosse beim Überlebenskampf beobachtet.

An einem kalten Nachmittag

im Mai lasse ich mich durch einen Spalt im Meereis ins Nordpolarmeer fallen.

Das Wasser an meinem ungeschützten Gesicht ist so kalt, dass ich knapp

davor bin, mich zu übergeben – minus 1,6 Grad. Sehr viel kälter

wird salziges Meerwasser nicht mehr, ehe es gefriert.

Meine Zähne krampfen

sich um das Mundstück des Lungenautomaten, während ich gegen

die Übelkeit kämpfe. Dann habe ich den Schock überwunden

und tauche in die Tiefe des Lancaster Sound vor der Nordspitze des kanadischen

Baffin Island ab. Als ich noch einmal zum Eis hinaufschaue, erwarte ich,

es so zu sehen wie immer zu dieser Jahreszeit: blau, glatt, leblos.

Aber heute stimmt hier irgendetwas

ganz und gar nicht. Das Eis ist grün und braun gefleckt. Es bewegt

sich. Ich blinzle und prüfe meine Tiefe. Ich vergewissere mich, dass

ich keinen Schwindelanfall habe; für einen Solotaucher unter einer

dicken Eisschicht kann das tödlich sein. Dann begreife ich: Was ich

über mir sehe, ist ein Schwarm garnelenähnlicher Flohkrebse.

Sie weiden das Phytoplankton ab, das im Frühling, wenn die Sonne in

die Arktis zurückkehrt, an der Unterseite des Eises wächst. Was

ich sehe, ist das eine Ende der Nahrungskette, die Basis des Ökosystems,

die Kombination aus Eis und winzigen Lebensformen, von der alle größeren

Tiere – Wale, Vögel, Robben und Eisbären – abhängig sind.

Ich habe schon immer in der

kanadischen Arktis gelebt. Als Fotograf hat mich der Übergang vom

Eis zum offenen Meer von Anfang an fasziniert. Früher schien mir das

Meereis unvergänglich zu sein, sogar in den wärmsten Monaten

war es immer da. Eis ist nicht nur eine Landschaft. Es ist Teil der Biologie

aller Tiere, die in der unendlich scheinenden Schneewüste leben.

Eisbären suchen hier

nach Beute. Robben ruhen sich auf dem Eis aus und bringen ihre Jungen zur

Welt. Gigantische Grönlandwale finden sich wie U-Boot-Geschwader ein,

um tierisches Plankton zu fressen. Belugas und Narwale stoßen dazu

und jagen den Kabeljau, dem fingerdicke Rinnen im Eis als Kinderstube für

seine Brut dienen. Eine Arktis ohne Eis? Unvorstellbar.

Kaum zehn Jahre später

hat sich vieles verändert. Das Eis der Pole schmilzt mit bedrohlicher

Geschwindigkeit ab. Die Erwärmung der Erde nimmt zu, eine eisfreie

Arktis wird – zumindest im Sommer – immer wahrscheinlicher. Bisher war

der Lancaster Sound im Norden Kanadas einer der fruchtbarsten Lebensräume

im Meer – und von Menschen kaum berührt. Doch wenn das Eis zurückgeht,

könnten in dieser Region bald große Frachter und Tanker fahren.

Manche Ökologen fürchten, dass Arten wie der Eisbär in weniger

als 100 Jahren aussterben, wenn es hier im Sommer kein Eis mehr gibt.

Die Fotos in diesem Beitrag

habe ich über zehn Jahre hinweg aufgenommen. Sie verkörpern meine

Liebe zum Eis und zu der blauweißen Welt, die von ihm lebt. Die Bilder

vermitteln auch eine Botschaft. Es ist die Erkenntnis, die mich an jenem

Tag trifft, als ich die Flohkrebse unter dem Eis weiden sehe und das Quietschen

der sich nähernden Wale höre: Wenn die Temperaturen auf der Erde

weiter ansteigen, wird das Eis hier wohl verschwinden.

Doch die Arktis ohne Eis

– das wäre wie ein Garten ohne Erde.

 

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