RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

 
Spiegel

online 08.05.07

GLOBALE ERWÄRMUNG

Sintflut-Prognose bringt

Forscher ins Schwimmen

Von Axel Bojanowski

Zentimeter, einige Handbreit,

mehrere Meter – kaum eine Vorhersage über die Zukunft des Planeten

ist umstrittener als jene, wie stark die Weltmeere anschwellen werden.

Experten prognostizieren Dramatisches, teilweise Bizarres. Dabei versteht

niemand den Unsicherheitsfaktor Grönland.

Schweigsamkeit unter Forschern

als stumme Kunde kommender Höchstpegel? Kein Laie wäre wohl auf

die Idee gekommen, dass Meeresspiegel-Experten dergleichen ins Haus steht.

“Jetzt habe ich wirklich alles gesehen”, gibt sich auch der Klimaforscher

Roger Pielke Junior von der University of Colorado überrascht belustigt.

Sein Kollege James Hansen

vom Goddard Institute der Nasa warnt vor einem rasanten Anstieg der Weltmeere

– nicht aufgrund von Berechnungen, sondern anhand einer soziologischen

Theorie: Der US-Soziologe Bernard Barber nämlich hatte spekuliert,

dass sich in Experten-Gemeinden im Vorfeld sensationeller Erkenntnisse

stets eine deutliche Stille breit macht.

Immerhin im gut beleumundeten

Fachblatt “Environmental Research Letters” hat Hansen, selbst einer der

bekanntesten Klimaforscher, dazu einen kuriosen Artikel eingereicht. “Schweigsamkeit”

will er bei seinen Kollegen ausgemacht haben – und deutet sie als schlechtes

Omen: Die Bedrohung eines rapiden Meeresspiegelanstiegs werde nicht genügend

besprochen.

Für diese eher ungewöhnliche

Argumentation erntet er nicht nur den Spott seines Kollegen Pielke: “Wenn

wir mit Hilfe der Soziologie vorhersagen könnten, wohin die Naturwissenschaft

steuert, könnten wir die Forschung bleiben lassen und viel Geld sparen.”

Sechs, sieben, zehn Meter

– wer bietet mehr?

Die Episode bildet den Höhepunkt

einer seit Wochen andauernden Kontroverse. Forscher streiten darüber,

wie schnell die Weltmeere in den kommenden Jahrzehnten anschwellen werden.

Dabei offenbaren ihre Studien vor allem, dass sich der Anstieg der Ozeane

derzeit kaum berechnen lässt. Dennoch beschwören mehrere neue

Arbeiten die Katastrophe:

    * Wie

sich ein Sechs-Meter-Anstieg der Weltmeere auswirken würde, rechnete

eine Gruppe um Rex Rowley von der University of Kansas im Fachmagazin “Eos”

vor. Nach heutigem Siedlungsmuster wären demnach eine halbe Milliarde

Einwohner in sieben Weltregionen bedroht.

    * Sieben

Meter Plus prophezeite Garry Clarke von der University of British Columbia

Anfang Mai den Küstenbewohnern der Erde. Er hatte die Veränderungen

am grönländischen Eisschild untersucht, dessen Totalverlust er

fürchtet.

    * Regionen,

die weniger als zehn Meter über dem Meer lägen, würden noch

dieses Jahrhundert von anschwellenden Meeren bedroht, warnten Forscher

um Bridget Anderson von der Columbia University Ende März im Fachblatt

“Environment and Urbanisation”, ein Zehntel der Weltbevölkerung sei

betroffen.

Einzelne Arbeiten wie diese

sind höchst fragwürdig: Heute weiß niemand, wie viele Menschen

in 100 Jahren an den Küsten leben – und wie sie sich mit Deichen schützen

werden. Geschweige denn in 500 Jahren, dem Zeitraum für Rowleys Sechs-Meter-Szenario.

“Große Teile der Welt

unbewohnbar”?

Doch die feuchten Szenarien

schrecken die Politiker auf. Als Mitte April der Klimawandel erstmals zum

Thema im Uno-Sicherheitsrat wurde, warnte das Gremium immerhin vor einem

zwei Meter starken Anstieg der Meere noch in diesem Jahrhundert, der “große

Teile der Welt unbewohnbar machen” könnte.

Dieser Alarm verwundert,

hatte doch erst Anfang Februar das Intergovernmental Panel on Climate Change

(IPCC) erklärt, die Meere könnten in Folge der Erwärmung

um höchstens 59 Zentimeter bis zum Jahr 2100 anschwellen.

Die Warner schimpfen über

angebliche Abschwächungen im IPCC-Report. Doch genauere Prognosen

können sie auch nicht liefern. Grönland, so zeigt sich, ist der

große Joker im Meeresspiegel-Puzzle.

Ausgerechnet am Tag der Veröffentlichung

der IPCC-Ergebnisse am 1. Februar erschien aber auch eine anderslautende

Studie im renommierten Wissenschaftsmagazin “Science” – an Zufall wollte

in der Community kaum jemand glauben. Eine Gruppe um Nasa-Forscher Hansen

stellte darin – diesmal ohne Soziologie, dafür mit Messwerten – dar,

dass die Ozeane seit 1993 schneller anschwellen als vorhergesagt. Der Weltklimarat

unterschätze womöglich den Anstieg, folgern die Forscher. Kurz

zuvor schon hatte eine “Science”-Studie immerhin bis zu 1,40 Meter Plus

bis Ende des Jahrhunderts in Aussicht gestellt.

Der Wissenschaftsanalytiker

David Wasdell warf dem IPCC in der Zeitschrift “New Scientist” vor, die

Pegelvorhersage deutlich abgeschwächt zu haben. Die 21 Hauptautoren

der betreffenden Arbeitsgruppe widersprachen vehement. Ebenfalls im “New

Scientist” schrieben sie Ende März, es sei “voreilig”, ein beschleunigtes

Anschwellen der Ozeane zu konstatieren.

Vulkane, Gletscher, Schneefall

Ursache des Konflikts ist

die dünne Datenlage. Satellitenmessungen des Meeresspiegelanstiegs

gibt es erst seit 1993. Seither ermittelten die Forscher 3,2 Millimeter

Anstieg pro Jahr; mit Pegelmessern hatten sie zuvor 1,8 Millimeter pro

Jahr festgestellt. Behielten die Ozeane ihr derzeitiges Anstiegstempo bei,

lägen sie Ende des Jahrhunderts etwa 30 Zentimeter höher. Viel

mehr weiß man nicht. Doch einige Klimaforscher wie James Hansen meinen

eben, der Meeresspiegelanstieg könnte sich weiter beschleunigen.

Andere verweisen auf natürliche

Schwankungen. So war der Vulkanausbruch des Pinatubo auf den Philippinen

1991 für die Hälfte des stärkeren Anstiegs in den vergangenen

Jahren verantwortlich, haben Wissenschaftler um den Australier John Church

herausgefunden. Die Eruptionspartikel hätten die Erde gleich einem

Sonnenschirm gekühlt – und den Meeresspiegelanstieg gebremst. Seit

1993 schwellten die Ozeane daher entsprechend wieder schneller an.

 

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