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Tagesschau

online 10.10.07

Windscale-Sellafield vor

50 Jahren

Fast eine atomare Katastrophe

Von Silke Engel, ARD-Hörfunkstudio

London

Vor 50 Jahren entging England

nur knapp einer atomaren Katastrophe: Der Reaktor in Windscale – wie die

Sellafield-Anlage im Nordwesten des Landes damals genannt wurde – erhitzte

sich derart, dass er zu brennen anfing. Eine Explosion konnte verhindert

werden. Doch der Störfall gilt seitdem als der erste schwere Reaktorunfall

in der Geschichte.

Wenn sich Tom Tuohy an den

– wie er selbst es nennt – “wichtigsten Tag seines Lebens” erinnert, beginnen

die Augen des 87-Jährigen nervös zu flackern. Als das Drama passierte,

war er stellvertretender Werksleiter von Windscale. Er hatte gerade Urlaub,

als ihn der Hilferuf ereilte: “Ich war zu Hause, als mein Vorgesetzter

mich ins Werk bestellt. Er sagte nur kurz: Reaktor 1 brennt, kannst du

schnell kommen? Da stieg ich sofort ins Auto.”

Um die Temperatur zu drosseln,

sollten Ventilatoren Luft in den Grafitblock blasen. Dort, wo Uran in waffenfähiges

Plutonium verwandelt wird. Tuohy wusste: Würde der 2000 Tonnen schwere

Klotz Feuer fangen, drohte die ganze Anlage in die Luft zu gehen – wie

eine riesige Atombombe.

Die kalte Luft aber brachte

nichts, es brannte weiter. Die Geigerzähler an den Schornsteinen schlugen

Alarm, erinnert sich Tuohy. Er klettert selbst in einen Wartungsschacht,

um nachzusehen. An sein Leben dachte er in dem Moment nicht: “Ich brauchte

keinen, der sagte: Genug jetzt. Ich musste so lange bleiben, bis der verdammte

Reaktor wieder unter Kontrolle war.” Doch die Flammen loderten weiter –

und sie sorgten für eine unglaubliche Hitze, an die 1300 Grad. Mit

flüssigem Kohlendioxid wollten Tuohy und seine Leute das Feuer stoppen.

Am Ende half Wasser, eine gefährliche Löschaktion wegen der immensen

Explosionsgefahr.

Keine Evakuierung, nur Sperrzone

Was in diesen dramatischen

Stunden tatsächlich ablief, erfuhren die Briten erst 30 Jahre später

– aus Angst, der Störfall könnte die atomare Partnerschaft zwischen

England und den USA gefährden. So wurde damals lediglich das Werksgebiet

zur Sperrzone erklärt, und die örtlichen Medien verbreiteten

das Verbot, Milch aus der Region zu verkaufen. “Die Bauern sollten ihre

Kühe trotzdem melken”, erinnert sich Tuohy. Denn wie hätte man

“den Tieren erklären sollen, was Radioaktivität bedeutet”.

Eine Evakuierung der britischen

Bevölkerung hielt die Londoner Regierung damals nicht für nötig.

Nach offiziellen Schätzungen starben bis zu 40 Menschen an den unmittelbaren

Folgen des Unfalls. Ehemalige Mitarbeiter wie Tom Tuohy erkrankten mehrfach

an Krebs. Überhaupt traten rund um Windscale deutlich mehr Leukämiefälle

auf als im Landesdurchschnitt. Heute weiß man zudem, dass mindestens

doppelt so viel radioaktives Material freigesetzt wurde, als man noch vor

50 Jahren annahm. Zu dem Ergebnis kommen jüngst britische Forscher,

die die Unterlagen von damals erneut überprüft haben.

Kurz nach dem Störfall

wurden die Reaktoren in Windscale versiegelt, stillgelegt und die Anlage

umbenannt. Heute heißt dieser Ort Sellafield. Doch auch unter neuem

Namen sorgt das Gelände für Aufsehen: Zwei Wiederaufarbeitungsanlagen

gerieten wiederholt in die Schlagzeilen, weil sie den Atommüll einfach

in die Irische See kippten.

 

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