RootZ.Öko – Artikel aus der Umwelt

 
Spiegel

online 29.03.08

Die Rächer der Entlaubten

Von Jochen Bölsche

Als der Regen sauer war:

1983 bewegte das Waldsterben die Deutschen mehr als Aids oder Atombomben.

Die Grünen wurden in den Bundestag gewählt und der Katalysator

zur Pflicht. Seither stagnieren die Baumschäden in der Bundesrepublik

– doch 25 Jahre nach dem Öko-Aufbruch scheint sich das wieder zu ändern. 

“Ein solches Spektakel hat

es noch nie gegeben”, erinnert sich der Politik-Professor Hubert Kleinert,

einst Abgeordneter der Grünen, an den 29. März 1983. An jenem

Tag, an dem Mitglieder der Öko-Partei erstmals im Bundestag Platz

nahmen, erlitt die etablierte Politik eine Art Kulturschock. Dafür

sorgte vor allem Kleinerts seinerzeitige Fraktionssprecherin Marieluise

Beck-Oberdorf, damals 31 Jahre alt.

Begleitet von einem Tross

von Anhängern, die eine aufblasbare Weltkugel vor sich her rollten,

waren die 29 frisch gewählten grünen Abgeordneten, viele mit

Rauschebart und Schlabberpulli, zunächst durch das Regierungsviertel

gezogen. Pünktlich zur feierlichen Konstituierung des 10. Deutschen

Bundestages betraten sie den Plenarsaal – nur um ihn wenig später

demonstrativ zu verlassen, als Helmut Kohl seinen Kanzler-Eid schwor.

Nach dem spektakulären

Exodus blieb als einzige Grüne Marielouise Beck-Oberdorf im Plenum

zurück. Sie schaute zu, wie die Vertreter der alten Parteien in ihrem

grauen oder blauen Zwirn nach vorn drängten, um dem schwarzen Riesen

Kohl zu gratulieren, der im Herbst zuvor zusammen mit den wendewilligen

Freidemokraten das sozialliberale Kabinett Schmidt/Genscher per Misstrauensvotum

gestürzt hatte und dessen christ-liberales Bündnis in einer vorgezogenen

Bundestagswahl nun vom Volk bestätigt worden war.

“Ich kann Ihnen nicht gratulieren”

Die grüne Förstersenkelin,

deren Protesttruppe es zum Entsetzen der Altparteien gelungen war, auf

5,6 Prozent der Wählerstimmen zu kommen, drängte es keineswegs,

dem Aufsteiger Kohl Glückwünsche zu überbringen. Im Gegenteil:

Mit den Worten “Ich kann Ihnen nicht gratulieren” überreichte sie

dem Kanzler vor klickenden und surrenden Kameras – unerhört! – einen

mickrigen Tannenzweig und erklärte: “Die Tanne drückt unsere

Sorge über das Waldsterben aus.”

Das Waldsterben. Erstmals

war nun im Bonner Parlament jenes düster drohende Debakel auch optisch

präsent, dem die Grünen ihre Bundestagsexistenz verdankten –

und das die Nation in Erregung versetzte wie kein anderes der vielen Angstthemen

jener Jahre, inklusive Kernkraft, Aids und Atomraketen.

“Ohne die Angst vor dem Waldsterben

hätte es die Grünen nie gegeben”, sollte später der Berliner

“Tagesspiegel” resümieren, während die “Süddeutsche Zeitung”

rückblickend urteilte: “Nie zuvor und nie wieder danach hat ein Umweltthema

derart den Nerv der Gesellschaft getroffen.”

Im Wahlkampf um die Jahreswende

1982/83 hatte das Waldsterben in der Tat sämtliche anderen Streitpunkte

überlagert – und das nicht nur in den Veranstaltungen der Grünen,

die auf ihrem Vormarsch in die Machtzentren der Politik bereits einen Landtag

nach dem anderen erobert hatten, sondern auch in den Aussagen der aufgeschreckten

Etablierten.

Ein “ökologisches Hiroshima”?

Bundesweit warf die Union

zur Wahl flugs ein Werbeblatt auf die Märkte, auf dem der Kampf gegen

das Waldsterben neben der Friedenserhaltung zur “wichtigsten Aufgabe der

Menschheit” erklärt wurde – mit einem Zitat des neuen Umweltministers

Friedrich Zimmermann, dessen CSU die grünen Mahner kurz zuvor noch

der “Panikmache” bezichtigt hatte.

“Wenn’s um die Bäume

geht, da kriegen wir eine Volksbewegung”, schwante vor der Wahl auch dem

SPD-Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel. Seine Partei hatte zwar schon

in den Sechzigern den Kumpels im Kohlenpott einen “blauen Himmel über

der Ruhr” (Willy Brandt) versprochen, aber wirksame Gesetze gegen die Luftverschmutzung

lange Zeit als Arbeitsplatzkiller denunziert. Nun jedoch, mit den Grünen

im Nacken, reihten sich auch die Genossen ein in den Kampf gegen das “ökologische

Hiroshima”, so der Abgeordnete Freimut Duve im SPD-Pressedienst, das den

Wäldern drohe.

Der parteiübergreifende

Konsens machte es möglich, dass das Wendejahr 1983 als Glanzlicht

in die deutsche Umweltgeschichte eingehen konnte: In keinem anderen Jahr

vollzog der Gesetzgeber fortan so viele wirksame Weichenstellungen im Kampf

gegen die Schadstoffe, die nach allgemeiner Überzeugung das grüne

Drittel der Republik bedrohten: vor allem Schwefeldioxid aus Fabrikschloten,

das, in Sauren Regen verwandelt, den Bäumen an die Wurzeln ging, sowie

Stickoxide insbesondere aus den Auspufftöpfen der rapide wachsenden

Autoflotte.

Was war das Umwelt-Thema

Nummer eins in Ihrer Kindheit? Erinnern Sie sich an die Katastrophe von

Tschernobyl oder die Weißblechdosen-Hysterie? Erzählen Sie Ihre

Geschichte auf einestages!

Schwarz gestrichene Kinderwagen,

aufgebahrte Babypuppen

Gegen zunächst massiven

Widerstand der Energie- und der Autoindustrie verordnete der Bundestag

der Republik binnen kurzem Umweltstandards, wie sie anderswo, etwa in Japan

oder in Kalifornien, längst üblich waren: Entschwefelungsanlagen

für Kraftwerke und Katalysatoren für die Autos. “Ich kann doch

nicht ewig warten, bis der letzte Baum verreckt” warb CSU-Minister Zimmermann,

Jagdpächter und Holzhändlersohn, bei der Industrie um Verständnis

für Öko-Auflagen in Milliardenhöhe.

Das Kabinett Kohl stand nicht

nur unter dem Druck der Grünen im Parlament, sondern auch einer breiten

außerparlamentarischen Bewegung: Erstmals mischte sich das Lodengrün

der klassischen Naturschützer mit dem Olivgrün linker Parkaträger.

Und als auch noch Ärzte warnten, dass jene Gifte, die als Waldkiller

galten, zugleich die Lungenbäume von Kleinkindern schädigten,

stießen zunehmend auch Mütter mit schwarz angestrichenen Kinderwagen,

aufgebahrten Babypuppen und dem Slogan “Wenn der Wald stirbt, stirbt der

Mensch” zu den Umweltschützern.

“Anders als etwa die Diskussion

um die Kernkraft in den 1970er Jahren, die durch gesellschaftliche Polarisierung

gekennzeichnet war, bot das ‘Waldsterben’ für gesellschaftliche Gruppen

vom linken bis zum konservativen Spektrum vielfältige Anknüpfungspunkte”,

urteilt die Freiburger Forsthistorikerin Birgit Metzger. Auf diese Weise

seien damals “umweltpolitische Themen in den Mainstream” eingedrungen.

Superhohe Schornsteine statt

Filter”

Dazu trugen nicht zuletzt

wirkungsstarke Aktionen von Greenpeace Deutschland (gegründet 1980)

und Robin Wood (gegründet 1982) bei, die vor den Augen von Millionen

TV-Zuschauern die Dreck speienden Kraftwerksschlote von Kohle-Giganten

wie RWE (“Rest-Wald-Erlediger”) besetzten.

Schlüssig schienen die

Anfang der Achtziger publik gewordenen Mahnungen der Forstwissenschaftler,

die an ein altbekanntes Phänomen anknüpften: Dass schweflige

“Rauchgase” aus Erzhütten die Wälder beispielsweise im Erzgebirge

großflächig zu ruinieren vermochten, hatte schon im 19. Jahrhundert

zum fachlichen Standardwissen gehört; im Süden der DDR, an der

tschechischen Grenze, stachen solche Waldschäden damals selbst Laien

ins Auge.

Neuartig war die These, dass

die bis in die achtziger Jahre übliche Methode, solchem Übel

vorzubeugen, die Schäden lediglich verzögerte und verschob: Der

obligatorisch gewordene Bau von superhohen Schornsteinen – statt von teuren

Filteranlagen – verteilte den sauren Dreck über riesige Flächen,

wo er, fern der Quelle, tückische Wirkungen entfaltete.

Saurer Regen nagt am Kölner

Dom

Essigsaure Niederschläge

aus Schloten und Auspufftöpfen reicherten sich vor allem in den Waldböden

der Mittelgebirgskämme an, nagten an kalksteinernen Baudenkmalen wie

dem Kölner Dom und brachten selbst noch in skandinavischen Seen alles

Leben zum Erliegen, so dass die schwedische Regierung 1983 die schleichende

Versäuerung, die “Acidification”, zum “größten Umweltproblem”

der Nordhalbkugel erklärte.

Zwar warnten Wissenschaftler

schon damals vor monokausalen Erklärungsversuchen, die andere mögliche

Ursachen von Baumkalamitäten – etwa Trockenheit und Käferbefall,

Wildverbiss und Windbruch, Ozon und Agraremissionen – außer acht

ließen; auf das komplexe Ökosystem Wald wirke schließlich

nicht nur der Saure Regen ein, vielmehr vollziehe sich dort ein “multifaktorielles

Geschehen”. Die politische und wissenschaftliche Debatte indessen fokussierte

sich rasch auf die Hauptverdächtigen, die Kraftwerks- und Kraftfahrzeugabgase.

Unisono mit der Masse der

Medien dekretierte damals die Hamburger “Zeit”, am “Ausmaß des Waldsterbens”

könne “allenfalls ein pathologischer Ignorant” noch zweifeln. Fraglich

schien 1983 lediglich, ob es für den deutschen Wald “fünf Minuten

vor zwölf” war, wie der Münchner SPD-Politiker Hans Kolo meinte,

oder “schon fünf nach zwölf”, wie die Arbeitgemeinschaft Deutscher

Waldbesitzerverbände verlautbarte.

Hysterie oder Anfang eines

Umdenkens?

So einig die Nation in der

Erwartung einer baldigen Entwaldung Deutschlands schien – ein Vierteljahrhundert

später gibt es ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage, warum

sich die Worst-Case-Szenarien von einst nicht bewahrheitet haben.

Einige zumeist wirtschaftsnahe

Publizisten, die heute im Einklang mit George W. Bush den Klimawandel als

Hirngespinst grüner Ideologen abtun, bezeichnen die Debatte über

das Waldsterben als Beispiel dafür, dass die Welt sich nicht von der

Hysterie von Öko-Streitern infizieren lassen dürfe. Deren Alarmrufe

seien schließlich widerlegt – schlagender Beweis der sogenannten

Klimaskeptiker: Der totgesagte Wald stehe ja noch.

Der Göttinger Forstwissenschaftler

Professor Bernhard Ulrich dagegen, der einst gemahnt hatte, “die ersten

großen Wälder” würden “schon in den nächsten fünf

Jahren sterben”, betrachtete zwei Jahrzehnte später die Walddebatte

und ihre Folgen als eine beispiellose “Erfolgsgeschichte” des deutschen

Umweltschutzes. Ähnlich urteilt heute Andreas Troge, Präsident

des Umweltbundesamtes: “Das Waldsterben kam nur deshalb nicht, weil wir

gerade noch rechtzeitig reagiert haben.”

Florierende Flechten

Hätte die nicht CDU/FDP-Mehrheit

in den Achtzigern dem Volk den Katalysator verordnet um Stickoxyde zu reduzieren,

so rechnet Troger vor, “müssten wir heute um 75 Prozent weniger Auto

fahren, um dieselbe Luftqualität zu erreichen”. Zum Teil aufgezehrt

wird dieser Erfolg allerdings durch die Zunahme des Kraftverkehrs sowie

auch durch die anhaltende Emission von Stickstoffverbindungen durch die

Landwirtschaft.

Umso dramatischer sind die

Erfolge in der Bekämpfung des Schwefeldioxids: Hier pusten Kraftwerke

und Fabriken nach einer Untersuchung des Norwegischen Meteorologischen

Instituts gar nur noch ein Fünfzehntel der Schwefeldioxid-Menge von

1980 in die Lüfte – ein Erfolg, zu dem allerdings auch der Niedergang

der DDR-Industrie mit ihren volkseigenen Dreckschleudern beigetragen hat.

Die Folgen sind europaweit

spürbar. In deutschen Großstädten wachsen mittlerweile

fünfmal so viele Flechtenarten – Indikatoren für reine Luft –

wie zur Zeit des Sauren Regens. Das umweltpolitische Großreinemachen

in den Achtzigern ist, natürlich, auch den Menschen zugute gekommen.

Atemwegserkrankungen sind seither nicht nur an der Ruhr zurückgegangen.

Auch der Bleigehalt im Blut der Bevölkerung ist – ebenso wie die Cadmium-

und Quecksilberbelastung – laut einer Studie des Berliner Robert-Koch-Instituts

stark rückläufig.

650.000 Tote durch Luftverschmutzung

in China

Entwarnung für den Wald

mag das Berliner Agrarministerium gleichwohl nicht geben. Obwohl per Hubschrauber

und Flugzeug die sauren Forsten seit zwei Jahrzehnten stetig und großflächig

mit neutralisierendem Kalk berieselt werden, ist jeder vierte Baum schwer

geschädigt, bedeutet jeder weitere Eintrag von Stickoxiden etwa aus

der Güllewirtschaft oder dem Kraftverkehr eine Belastung für

das Wald-Ökosystem, insbesondere für das Wurzelwerk von Monokulturen

auf ungeeigneten Standorten.

Seit der Klimawandel dem

Kontinent immer mehr Winterstürme und Sommerdürren beschert,

taucht das von manchem schon beerdigt geglaubte Wort “Waldsterben” nun

plötzlich wieder auf. Während Orkane wie “Kyrill” und Borkenkäfer

voriges Jahr süd- und westdeutsche Nadelwälder großflächig

niedermachten, schwante der “FAZ”, der Klimawandel könne die maladen

Forsten derart schwächen, “dass es zu vermehrtem Waldsterben kommen

kann”.

Totgesagte leben länger

– das scheint auch für das Waldsterben zu gelten, nicht nur in Deutschland.

Mittlerweile vollzieht sich im aufstrebenden China, was in der Bundesrepublik

dank des Öko-Aufbruchs von 1983 weitgehend verhindert worden ist.

Ein Drittel der Landmasse leidet dort unter Saurem Regen, ungefilterte

Schwefel-Emissionen aus den Schloten der boomenden Industrie gehen auch

über Japan und Korea nieder. Krankheiten wie Lungenkrebs nehmen so

massiv zu, dass nach Weltbank-Berechnungen jährlich rund 650.000 Chinesen

vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung sterben. Mahner, die, wie

einst Marieluise Beck-Oberdorf, publikumswirksam die Regierenden zum Handeln

provozieren, sind in China nicht in Sicht.

Der Grünen mit dem Tannenzweig

hat der Auftritt Ende März 1983 in den eigenen Reihen übrigens

vor allem Ärger eingetragen. Parteifreunde attackierten sie wegen

des nicht abgesprochenen Alleingangs so massiv, dass sie vor den versammelten

Grünen in Tränen ausbrach. Petra Kelly, damals Ko-Sprecherin

der Fraktion, griff die Parteifreundin mit einem anderen Argument an: Besser

wäre es gewesen, Marieluise hätte dem Kanzler einen “noch viel

verstorbeneren Zweig” übergeben.

 

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