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Wenn mensch danach sucht, gibt es auch noch weitere Parallelen zum Mutterland des Reggae: ein Hauptprodukt der Landwirtschaft ist in beiden Fällen das Zuckerrohr. Egal ob Westindische Inseln oder Indischer Ozean, der süße Saft aus dem gepreßten Rohr wird zu Hochprozentigem, bei uns als Rum bekannt, weiterverarbeitet. Mir persönlich schmeckt das Feuerwasser aus der Karibik viel besser, als aus Réunion, es ist milder. Wußte eigentlich schon jemand, daß Rum in Naturform weiß ist, und brauner oder alter Rum eingefärbt sind? Ich dachte, es sei genau andersherum und weißer Rum würde seine Farbe durch einen weiteren Destillationsdurchgang verlieren. So kann mensch sich irren.
Eine weitere Parallele zwischen den zwei Inseln ist die Farbenvielfalt der Bewohner, sie ist in beiden Fällen ähnlich, unterscheidet sich nur in ihrer Zusammensetzung, auf Réunion gibt es, wohl weil es zu Frankreich gehört, um einiges mehr Europäer. Die Leute auf beiden Inseln haben sich aus Sklavenhalterverhältnissen emanzipiert und wenn sich die Menschen schon vor der offizielen Abschaffung der Sklaverei selbst befreit hatten, hießen sie auf Jamaika "Maroons" und auf Réunion "Marrons", und es wurde gleichermaßen blutig, brutal und menschenverachtend versucht, die Entflohenen wieder einzufangen, beziehungsweise Ausbrüche von Vornherein zu verhindern. Die Weggelaufenen wurden mit Bluthunden gehetzt und haben sich auf beiden Inseln in der Regel in die Berge abgesetzt.
Ist die alte Sklavenhaltergesellschaft auch abgeschafft, haben sich
heute neue Unterdrückungsstrukturn etabliert, in beiden Fällen
wird den Bewohnern nur zu geringstem Maße zugestanden, eine produktive
Wirtschaft aufzubauen und sich damit etwas autonomer zu machen. Für
den Weiterbestand der wirtschaftlichen Abhängigkeiten sorgen im einen
Fall die U.S.A., im anderen Fall "La Grande Nation", Frongreisch,
zu dem La Réunion als Departement d'Outre Mer nach wie vor gehört.
La Réunion ist eine Insel der Maskarenen, zu denen desweiteren "Mauritius",
die bei uns durch die Sammlerwut von Philatelisten etwas bekannter gewordene
Insel, und "Rodrigues", ein sehr unbekanntes und kleines, im
Vergleich zu seinen beiden Geschwistern unberührteres Eiland gehören.
Die Maskarenen liegen alle ein paar hundert Kilometer östlich von
Madagaskar mitten im blauen Indischen Ozean, Réunion ist siebenhundertundachzig
Kilometer von der Rieseninsel vor der Ostküste Afrikas entfernt.
Von den Maskarenen ist Réunion erdgeschichtlich mit ungefähr fünf Millionen Jahren Geschichte die jüngste Ansammlung von aus dem Erdinneren in Schloten heraufgepumpter erstarrter und zu vielfältigem Leben erwachter Lava. Es existieren ein erloschener Vulkan, der "Piton des Neiges", welcher zwei Drittel der Fläche der Insel ausmacht und ein aktiver Vulkan, "Piton de la Fournaise", der bis heute regelmäßig Lava des dünnnflüssigen Types, bekannt auch aus Hawaii, ausspuckt und diese glücklicherweise auf seiner dem Meer zugewandten Südseite abfließen läßt und somit die Insel immer um ein paar Quadratmeter vergrößert. Bricht der als einer der am weltweit aktivsten geltende Piton de la Fournaise aus, setzt sich ein immenser Troß von Neugierigen auf Réunion gen Schlot in Bewegung, um möglichst nahe an dem Schauspiel der rohen pyrotechnischen Kräfte der Unterwelt sein zu können.
Topographisch
wird die Insel von diesen zwei Vulkanen bestimmt, der Piton des Neiges
geht knapp dreitausend Meter über den Meeresspiegel hinaus, der aktive
Piton de la Fournaise bringt es derzeit auf etwas mehr als zweitausendsechhundert
Meter, mit einer durch jeden Ausbruch steigenden Tendenz. Der Hauptteil
der Menschen lebt auf den "Plaines", Hochebenen zwischen den
zwei Vulkanen und entlang der Küste, mit Ausnahme im "Sud Sauvage",
weil dort immer wieder Lava abfließt. Insgesamt kann gesagt werden,
daß jedes Stück erschließbarer Boden auf diesem zerklüfteten
Stück erstarrter Lava besiedelt ist oder wirtschaftlich genutzt wird.
Die Bevölkerung ist zusammengewürfelt und völlig bunt gemischt. Grob geschätzt sind siebenunddreißig Prozent Kreolen, fünfundzwanzig Prozent Inder, zwanzig Prozent Europäer, fünfzehn Prozent Afrikaner und drei Prozent Chinesen. Es ist eine junge Bevölkerung, von den geschätzten siebenhunderttausend Menschen sind zweihundertundsechzigtausend unter zwanzig Jahre alt. Und das merkt mensch, die Straßen sind voll mit jungen Leuten, die in eine recht unsichere Zukunft schauen, denn auf der Insel herrschen derzeit vierzig Prozent Arbeitslosigkeit, hauptsächlich unter der Jugend.
Ein weiteres Phänomen ist, daß sich auf Réunion offensichtlich viele Sozialhilfeempfänger, HIV-Kranke und Rentner aus dem Mutterland Frankreich ansiedeln, aber wer kann die Leute nicht verstehen, dem grauen Mitteleuropa zu entfliehen, wenn sich dafür solch eine Chance bietet. Der Lebensstandard ist nicht schlecht, es hungert niemand, es gibt ausreichend Bildungseinrichtungen, einundachtzig Prozent der Haushalte besitzen ein Telefon, achtundfünfzig Prozent fahren ein Auto, es gibt eine mit der in der Bundesrepublik gezahlten, vergleichbare Sozialhilfe.
Arbeit gibt es in der Landwirtschaft, wo hauptsächlich Zucker, Vanille, Geranienextrakt zur Parfumherstellung und ein paar weiteren hortikulturelle und für den Mitteleuropäer exotische Produkte, wie Gewürzpflanzen produziert werden. Dazu kommt Beschäftigung im Bausektor, die Insel boomt, die Bevölkerung wächst immer weiter und die neuen Bürger brauchen alle ein Dach über dem Kopf. Der Dienstleistungssektor ist mit Bereichen wie Gastronomie und Tourismus, Arbeitgeber für den Einen und die Andere und auch im öffentlichen Dienst, sprich Verwaltung, Transport, Entsorgung der Unmengen von Müll undsoweiter sind einige Menschen untergekommen und können ein paar Francs mit nach Hause bringen.
Der Nachtflug von Paris nach St Denis, dem internationalen Flughafen auf Réunion konnte einem schon Angst und Bange machen, denn der Flieger war eine überaltete Boeing 747, auch bekannt als "Jumbo Jet", Das Flugzeug zeigte an allen Ecken Abnutzungserscheinungen und hier und da produzierte es sehr verdächtige Knarrgeräusche. Gibt es eigentlich keinen weltweit gültigen TÜV für solche fliegenden Särge? Wenn nicht, dann wird es höchste Zeit für eine solche Einrichtung, denn wenn schon so renommierte Gesellschaften wie Air France solche Flieger in Betrieb haben, dann möchte ich nicht mehr mit den kleineren Airlines fliegen. Wie meinte der Visionär und Crashspezialist Udo Lindenberg schon Anfang der Achtziger Jahre unterwegs auf die Bahamas in seinem Song "Reggae Maggie"? "Ich habe gebucht mit der Never-Come-Back-Airline". Heute ist diese Art des Reisens ziemlich normal, wahrscheinlich in fast jedem Reisebüro an der Ecke pauschal zu buchen, nur heißen die Fluglinien mittlerweile anders: "Birgen Air", "Olympic Airlines", "Swissair" undsoweiter.
Vollgepackt bis auf den letzten Sitz hob die Maschine abends gegen einundzwanzig Uhr träge von der Piste des Flughafens Paris Orly ab, um die Passagiere über Nacht zu ihrer fast zehntausend Kilometer entfernten Destination mitten im Indischen Ozean zu bringen. Das Essen war gut, es wurde ein Vorgeschmack auf die kreolische Küche serviert, die Sitze waren sogar für einen schlanken Menschen, wie mich, viel zu eng und die Franzosen waren einmal mehr viel zu laut, wie es nun 'mal ihre Art ist. Dr. Igüz war froh, als er am nächsten Morgen auf dem Stück erstarrter Lava, dort genauer in der Hauptstadt St. Denis landete und den altersschwachen Jumbo verlassen konnte.
Was ich nicht verstehe, ist, daß bei einem Inlandflug von Frankreich nach Frankreich, Réunion gehört wie gesagt zur Europäischen Union, Pass- und Zollkontrollen stattfinden. Besonders Letzteres kann unangenehm sein: die beiden Male, die ich diese Insel besucht habe, wurde ich höflich, aber auch nachdrücklich mit meinem Gepäck in einen leeren Raum gebeten, dessen einziges Möbelstück ein Stuhl in der Mitte des Zimmers war. Und dann kam Besuch, ein Drogenköter mitsamt seinem Herrchen. Aber Dr. Igüz war schlauer und wer die offizielle französische Einstellung zu Produkten aus indischem Hanf kennt, kann mich gut verstehen, daß die Einreise nach Réunion clean geschehen mußte. Außerdem mußte eine Versorgung von zu Hause nicht sein, denn die Insel ist das Anbaugebiet von "Zamal", das ist die kreolische Bezeichnung für Ganja, aber dazu später an geeigneter Stelle.
Ich durfte unbescholten, wie ich nun einmal bin, den Schnüfflerraum verlassen und mich endlich durch die Schranken des Zolls in die Freiheit begeben. Meine Abholung war organisiert und so erwartete mich jemand mit einem Schild, das meinen Namen trug, ganz so, wie mensch es aus dem einen oder anderen Film kennt. Der Fahrer verfrachtete den Rucksack im Kofferraum und ab ging es, um den Doktor zu seinem Ziel zu bringen.
Bei einem Zwischenstopp in St. Denis haben wir noch zwei Stühle eingesammelt, die von einem Korbflechter mit neuer Sitzfläche versehen wurden und schon ging es auf der vierspurigen Küstenstraße weiter erst gen Süden und dann gen Osten. Bei einem Zwischenstop an einer Tankstelle zwecks Benzinaufnahme gab es die erste Berührung mit der weltweiten Inselmusik schlechthin, dem guten, alten Reggae. Aus unsichtbaren aber unüberhörbaren Lautsprechern dröhnte "One Love" von Bob Marley in voller Lautstärke quer über die Tanke und die dort arbeitenden Kreolen skankten in ihren Blaumännern mit happy Gesichtern dazu, Reggae really international.
Danach ging es weiter nach St. Louis, das ungefähr auf der anderen Seite der Insel liegt. Dort wurde der Doktor in einem kleinen kreolischen Restaurant schon von seinem Papa erwartet und zur Feier des Wiedersehens gab es ein "Cari", man kann es als die lokale Variante des asiatischen Currygerichtes bezeichnen. Jede Art von Fleisch, Fisch, oder Geflügel, sogar die Inselversion von Bratwurst , "Saucisse Rougail" kann als Cari zubereitet werden. An dem Tag fiel die Wahl auf einen exzellenten Schwertfisch, garniert mit Krabben. Was die Caris zusätzlich so unwiderstehlich macht, ist die Menge an Beilagen, die mit dem Hauptgericht serviert werden. Es gibt immer Linsen oder Bohnen und jede Menge scharfer Sößchen, "Rougail" genannt, häufig auch noch Salate aus für uns exotischen, lokalen Gemüsen, wie beispielsweise "Chou Chou", dazu.
Nachdem der
Hunger gestillt und auch schon die ersten wichtigen Themen angerissen waren,
machten wir uns auf zur finalen Destination, denn St. Louis war nur eine
Zwischenstation. Ein großer Aufstieg wartete noch auf uns, von besagtem
St. Louis an der Küste in den "Cirque de Cilaos", einen
Kessel des Piton des Neiges, der im Krater dieses toten Vulkans das westliche
Drittel ausmacht. Die Strecke besteht fast nur aus Serpentinen und wer
entweder Höhenangst oder einen empfindlichen Magen hat, sollte die
Straße vielleicht besser meiden, denn es geht durch eine atemberaubende
Landschaft, geformt von vulkanischen Urkräften, in unzähligen
Kurven immer weiter die bizarren Berge hinauf.
Mit ganz neuen Landschaftseindrücken und auf dieser Fahrt glücklicherweise ohne Erbrechen landeten wir sicher in der Kleinstadt Cilaos, die auf dreizehnhundert Metern liegt. Dort haben meine Eltern sich eine kleine "Case", eine traditionelle kreolische Behausung, zugelegt. Das Klima in der Höhe ist natürlich für einen an kühlere Temperaturen gewohnten Mitteleuropäer viel angenehmer, als das an der Küste, wo Hitze und Luftfeuchtigkeit sich zu einem manchmal schwer erträglichen Gemisch vereinen, besonders in Verbindung mit den Ausdünstungen des dort nicht endenden Autoverkehrs. Nicht so in Cilaos, in dem derzeitigen Frühjahr auf der Südhalbkugel, unserem Herbst, kommt mensch abends, bzw. sobald sich die Sonne einmal versteckt hält, sogar recht schnell ans Frieren.
Cilaos ist eine ruhige Ortschaft in dem gleichnamigen der drei Cirques, die der zur Ruhe gekommene Vulkan hinterließ. Es gibt dort nach einer Schätzung ungefähr zweitausendfünfhundert bis dreitausend Einwohner, genauer kann die Zahl aufgrund von Fluktuation und Mobilität der Bewohner nicht genannt werden, der gesamte Cirgue hat knappe sechstausend Einwohner. Alles geht in diesen Bergsiedlungen am Fuße der Kraterwände seinen geruhsamen Gang, "bloß keine Hektik" heißt die Parole, wie es in den Bergen meist üblich ist.
Der erste Abend in der für meine Eltern gar nicht mehr so neuen Heimat, sie leben schon einige Jahre auf der Insel, war natürlich dafür reserviert, sich ein wenig auszutauschen und über das eine oder andere wichtige Thema zu diskutieren, aber, keine Angst, der Bericht wird nicht zu einer Böhmer'schen Familiensaga. Dr. Igüz ist bemüht, Euch, Ihr werten Leser und Leserinnen, einen guten Eindruck der Insel zu vermitteln und vielleicht bei dem einen oder der anderen ein wenig Reisefieber zu wecken. Denn sogar Euer werter Doktor ist von solch einem Fieber gepackt und weiß bis heute kein Gegenmittel und keine Kur, als dem Trieb nach neuen Ländern und Eindrücken nachzugeben.
Viele Einblicke, die ich während meiner Zeit auf der Insel erlebte, haben einen Touch von Surrealem, Verträumtem, von "das kann doch gar nicht wahr sein". Meine Wanderungen und Ausflüge kamen mir oft vor, wie Tagträume, 'mal in Farben, wenn ich eine Vielzahl von Blüten, Blumen und bunten Pflanzen gesehen habe, die dann oft von gekonnten Händen sehr schön arrangiert sind, sei es in den kreolischen Gärten, für die diese Insel berühmt ist, oder in der Natur, wo oft verblüffende Kontraste aufeinander treffen. Oder 'mal auch Wachträume in Formen, wenn ich an die ganzen Konturen der Berge, Veästelungen von fremden Gewächsen, bizarren Vulkanformationen, knorrigen Wurzeln und exotischen Pflanzen denke.
Und wenn ich unterwegs in der Natur war, kam es mir immer so vor, als würde mich mein Schutzengel in Form des "Tek-Tek", eines kleinen lokalen Vogels zwischen Rotkehlchen und -schwänzchen, begleiten. Natürlich war es nicht immer der gleiche Vogel, aber wenn ich in den Bergen unterwegs war, kam es mir so vor, als würden die Vögel meine Nähe suchen und mir nachkommen. Tja, der eine oder andere denkt jetzt bestimmt: "hmm, Réunion scheint guten Stoff zu haben, sowie der schreibt, war der alte Max offensichtlich häufig gut angeknallt". Das möchte ich im Allgemeinen gar nicht leugnen, aber für gewisse Dinge in der Natur brauche ich überhaupt keinen Synapsenbeschleuniger, um mich so high, wie der von The Pharcyde besungene "Emerald Butterfly" zu fühlen, der durch die Blütenpracht der Bergfauna Réunions gleitet. Probiert es selbst aus, wenn Ihr es mir nicht glauben wollt.
Cilaos bietet
sich als Ausgangspunkt für ausgedehnte Touren in die drei Talkessel
des Piton des Neiges an. Zum Warmlaufen kann mensch schon im selbigen Cirque
ein paar interessante Toren machen, ein unvergeßlicher Eindruck ist
die Wanderung entlang der steilen Kraterwände in grünen Wald,
durchsetzt mit exotischen, blühenden Pflanzen. Die Athmosphäre
in der Natur ist so friedlich, beispielsweise dadurch, daß einem
die Vögel fast bis auf die Hand kommen. Das ist eigentlich ein Wunder,
denn wer einmal eine Gruppe von Schneckenfressern und -lutschern in der
Natur erlebt hat, muß denken, daß die von ihnen verursachte
Phonfront auch die letzte begehrte Schnecke, und erst recht die Vögel
im Turbo von ihrem Platz vertreiben müßte. Die Geschöpfe
von Réunion müssen sehr duldsame Geschöpfe sein.
Ein sehr interessanter Teil des toten Vulkans ist der nördlich gelegene Cirque de Mafate. Er zeichnet sich dadurch aus, daß er keinen leicht erschließbaren Zugang hat, wie die zwei anderen Cirques. Und das Innere ist von Papa Jah offensichtlich geschaffen worden, als er aus irgendeinem Grunde konfus und heftig drauf war, die Gesteinsmassen sind so dermaßen bizarr geformt und von Einschnitten tief durchfurcht, daß mensch es selbst sehen muß, um es zu glauben. Jedenfalls ist der Kessel nicht unbedingt dazu geeignet, um dort irgendwelche Straßen zu bauen und wofür auch. So gibt es bis dato noch keinen asphaltierten Ausgang aus diesem Teil des Kraters und die Bewohner lehnen ein Straßenprojekt laut Umfrage bisher ab.
Für den Doktor mit dem grünen Herzen ist ein solcher Ort natürlich eine Herausforderung und so hat er sich auf einen langen, beschwerlichen, aber natürlich auch phantastischen Fußmarsch gemacht, um Euch Informationen über die Mafate zu geben. Angefangen in Cilaos führt der Weg über einen Paß in besagten Cirque und die Wanderung hätte richtig schön sein können, wenn nicht diese Touristenmassen überall ihre Spuren hinterlassen hätten. Offensichtlich ist es in Frongreisch ein Volkssport, Wegränder mit Plastik, Flaschen und Papier zu verzieren und als Markierung überall Häufchen, entweder mit weißem oder rosafarbenem Klopapier garniert, zu hinterlassen. Es scheint zu viel für diese "zivilisierten" Menschen zu sein, das Zeug ordentlich zu entsorgen oder zum Kacken ein paar Meter vom Weg wegzugehen. Andere Länder, andere Sitten, aber darum geht es hier ja eigentlich nicht.
Nach viereinhalb Stunden anstrengendem Fußmarsch mit häufigem Auf und Ab, war Dr. Igüz ein wenig fußlahm an seinem Ziel, der Siedlung, "La Nouvelle" angekommen. Viele Eindrücke wirkten auf sein Akademikerhirn ein, aber einer ist direkt hängengeblieben: Über der ganzen Siedlung lag der Sound von Bob Marley's "Exodus" in einer Lautstärke, daß Bob auch im letzten Haus noch zu vernehmen war. Ich kombinierte Bob's Musik gleich Reggaelover gleich Raucher und wanderte los, denn nach einigen Tagen Abstinenz kommen ein paar Züge "Zamal" bestimmt gut. Gesagt, getan und des Doktor's Instinkt wurde nicht enttäuscht. Zwar gab es bei dem netten Menschen nichts zu erwerben, aber wenigstens ein paar Male die Lungen mit den begehrten Molekülen zu füllen und einen neuen Kontakt zu knüpfen, das war doch auch schon etwas.
Auf dem Marsch zur Nouvelle hatte ich schon eine Rastafrau mit Dreadlocks bis zum Hintern und einem Baby auf ihrem Arm getroffen und sie vorsichtig angesprochen, aber auch bei ihr bin ich auf ein ziemlich kurz angebundenes "non" gestoßen, offensichtlich ist es vielen Réunionnaisen zu gefährlich, sich auf das "Cannabizness" einzulassen, Leidtragender ist der rauchende Tourist, der zwangsläufig zum "nach-THC-lechzenden-Fremden" mutiert.
Der Cirque de Mafate ist der trockenste und am höchsten gelegene von allen Cirques und hat dadurch seine eigene Vegetation entwickelt, die ein wenig rauer ist, als in den zwei benachbarten Kesseln. An den Bächen, Kaskaden und anderen Wasserläufen jedoch hat sich eine üppig blühende Vegetation mit Blumen in allen denkbaren Farben und Formen entwickelt, meine Lieblingsblume ist hierbei die wilde weiße Lilie. Sobald mensch sich vom Wasser wegbewegt, wird die Vegetation sofort eher karg mit Gräsern, Agaven und Sträuchern, die sich mit Nadelwaldstücken abwechseln.
Dieser Cirque
ist schon durch seine Struktur für den Wanderer nicht leicht zu entdecken.
Es ist schwer, Euch Lesern einen Eindruck davon zu vermitteln, am ehesten
ist es vielleicht so, als wenn Jah eine Masse von Gestein aufgehäuft
und danach, vielleicht unzufrieden über seine Arbeit, mit einer Riesenaxt
darauf 'rumgedroschen hat. Die durch die Wucht der göttlichen Klinge
entstandenen Kerben können mehrere hundert Meter tief sein und auf
ihrem Grund fließt häufig das von den Höhen angesammelte
Wasser ab und schneidet die Furchen über die Zeit immer tiefer.
Eine solche Furche habe ich auf meiner Exkursion in der Mafate durchkreuzt und, liebe Leserinnen und Leser, und ich wollte, ich wäre ein Vogel gewesen. Ihr müßt Euch vorstellen, ich stehe auf der einen Seite des Tals und kann auf der Platform der anderen Seite auf gleicher Höhe wie ich mehr oder weniger mein Ziel "La Nouvelle"liegen sehen. Dazwischen liegen in Luftlinie nicht mehr als drei- oder vierhundert Meter, aber wehe, bestimmt sieben- bis achthundert Höhenmeter. Es warteten ein steiler Ab- und ein genauso atemberaubender Aufstieg auf den armen Doktor, der in letzter Zeit ironischerweise zusätzlich noch von Träumen mit Höhenangst geplagt wurde, darin glücklicherweise aber nie abgestürzt ist.
Wie häufig in den Bergen ist ein "Zurück" nicht nur noch anstrengender, sondern auch ein wenig blamabel, also hieß es den Höhenunterschied überwinden und zunächst jedoch erst einmal den Abstieg gepackt. An den Stellen zwischen Himmel und Erde, wo es brenzlig wurde, half ich mir mit dem Sprichwort "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" und habe nicht hingeguckt. Am erregendsten sind die Begegnungen mit Vögeln, in denen es mir in den Füßen zu kribbeln beginnt, was sich dann auf den gesamten Körper ausbreiten kann. Sie fliegen ganz unbekümmert um einen herum, nicht selten sind ein paar Schwalben neben, über oder unter einem, so daß sich bei mir dann das Gefühl von "wo ist der feste Boden unter meinen Füßen?" einstellt und ich für diese Momente etwas wackelig werde.
Irgendwie reiße ich mich in solchen Situationen aber zusammen und es geht immer weiter. So auch dieses Mal, von dem ich zu dem Zeitpunkt noch dachte, daß besagter Aufstieg der anstrengendste Part einer Tour war, den ich je gemacht habe. Etwas Schönes jedoch hat solch eine Situation, in der einerseits das Herz aus dem Körper hüpfen will und andererseits ein Paar Scheibenwischer an den Augen gegen den runterlaufenden Schweiß angebracht wären: die Freude über das Ende des Weges, wenn die Häuser und damit eine Wäsche und etwas zu essen und zu trinken in Sicht kommen.
Die Leute in der Mafate, es sollen ungefähr sieben- bis achthundert
sein, die sich im Übrigen auch nur eine kleine Anzahl von Familiennamen
teilen, leben einfach und doch sehr komfortabel. Der Kontakt zur Außenwelt,
Waren-, Personen- und Krankentransport, nicht zu vergessen Sightsseing-Touren
für betuchte Touristen, erfolgen per Hubschrauber. Ja, liebe Leute,
es ist kaum zu glaube, aber um diesen Teil des Stückes erstarrter
Lava, umspült von den Wellen des Indischen Ozeans, angemessen erschließen
zu können, wird in der Mafate jeden Morgen ein kleiner "Vietnamkrieg"
veranstaltet. An einem Tag habe ich um die vierzig Hubschrauber gezählt,
die über dem Cirque ihr Geschäft verrichtet haben.
Dafür bekommt der Einwohner und natürlich auch der Besucher einiges geboten: Strom und warmes Wasser aus Solarenergie, Bier, Tiefkühlkost und Konserven in den Läden, die sich in jeder größeren Siedlung, sprich ab zwanzig Häusern, offensichtlich hauptsächlich als Versorgungsstation für die Unmenge von Wandereren etabliert haben. Im Großen und Ganzen kann man sagen, daß aufgrund des täglichen Helikoptereinsatzes auf nichts verzichtet werden muß. Was das alles an Konsequenzen für die Umwelt mitbringt, steht auf einem anderen Blatt, ich will Euch jetzt nicht den Spaß an dem Reisebericht verderben.
Der Rückweg in den Cirque de Cilaos fiel mir um einiges leichter, als noch der Hinweg, es lag wahrscheinlich daran, daß ich frühmorgens um halb sechs mit dem ersten Licht aufgebrochen bin. So hatte ich den anstrengenden Aufstieg über die Kraterwand in den anderen Kessel schon hinter mir, bevor die Sonne sogar schon im dortigen Frühjahr mit ihrer teilweise mörderischen Hitze zuschlagen konnte. Der Rest des Marsches glich eher einem Spaziergang und ich saß schon vor zehn Uhr am Frühstückstisch meiner über die frühe Ankunft erstaunten Eltern.
Zurück in der Basis, der Case in Cilaos, bemerkte ich langsam,
aber sicher, daß zum absoluten Feriengefühl noch eine Zutat
fehlte, die ich bisher nur gelegentlich bei den paar zufälligen Treffen
mit Gleichgesinnten genießen konnte:
ich wollte mir etwas Zamal besorgen, um nicht mehr auf diese zugegebenerweise
spannenden Beggnungen zufälliger, aber auch seltener Art angewiesen
zu sein. Der Tip eines mir nahestehenden Menschen, dessen Identität
ich, genauso wie die der anderen Beteiligten, aufgrund der rigiden Anwendung
der französichen Drogengesetze, geheim halte, brachte mich einen guten
Schritt weiter.
Ich wandte mich daraufhin an einen in der Gegend wohlbekannten Kreolen, der dann eines Nachmittages mit mir per Bus zu einer Nachbarsiedlung aufbrach. Wohlwissend, wo er hinwollte, steuerte er mit mir den letzten Bauernhof des Dorfes an. Am Zaun des Hofes angekommen, hörten wir das Grunzen der Schweine, das Gackern des Geflügels und das Kläffen von unzähligen Hunden. Letzteres Getier ist offensichtlich dazu nötig, dem Bauern in seiner recht isolierten Lage ein wenig Sicherheit vor Einbrechern und verwandtem Gesindel zu geben. Das einzige, das wir an dem Nachmittag nicht hörten, war eine Antwort auf unsere Rufe nach dem Hausherren, der aber, alarmiert durch das Gekläffe seiner Köter, alsbald per Pick-Up angerauscht kam.
Wir haben uns gegenseitig kurz vorgestellt, die Hunde wurde mit noch lauterem Brüllen des Bauern zur Ruhe gebracht, ein Wunder, daß das funktioniert hat, nach dieser Brüllorgie verschwand er kurz um eine Ecke und kam mit einem trockenen Ast Ganja zurück. Was folgte, ist klar und bedarf hier wohl keiner detaillierten Beschreibung. Ich fand es nur ganz interessant, daß im Anschluß als das trockene Kraut ausgegangen war, frisches Zamal verwendet wurde. Auf einer Metallplatte kleingehackt und heißgemacht, dann eingerollt und weggepafft. Das schmeckt natürlich leider nicht so gut, der Geschmack von verbranntem Chlorophyl kommt zu stark durch, es ist aber immer noch besser als gar nichts.
Nachdem der
Bauer und ich uns ein wenig unterhalten haben, soweit das mit meinen Kreolischkenntnissen
überhaupt ging, entschloß er sich, meinem Wunsch nach ein wenig
eigenem Vorrat nachzukommen und wir sind in seinen Garten hinter dem Haus
gegangen. Und was soll ich sagen? Dr. Igüz' Herz ging auf, als ich
erblickte, was der Mann da für Kräuter offensichtlich mit viel
Liebe und großem Erfolg hinter seinem Haus züchtete.
Über dreißig Quadratmeter verteilt hatte er ungefähr fünfzehn Pflanzen stehen, alles bestes Sensimilla, wie mein geübtes Auge direkt erkannte. Sie waren nicht besonders hoch, vielleicht eineinhalb Meter, aber dafür immens buschig gewachsen und als ich nach dem Alter der Pflanzen fragte, wurde mir der Ursprung der Form auch klar: Die Gewächse waren schon neun Monate alt, eine Lebensdauer, die offensichtlich an Orten mit ungefährer Tag- und Nachtgleiche über das Jahr, wie es in der Tropenzone der Fall ist, erreicht werden kann. Der Farmer stellte mir die philosophische Frage: "warum soll ich die Pflanzen killen, wenn sie weiterwachsen?" Er erntet nur die reifen Spitzen und läßt dem Rest der Pflanzen die Chance, sich weiter zu entwickeln und wieder neue Spitzen zu bilden, eine Idee, über die es wert ist, nachgedacht zu werden.
Und wieder dieser Anflug von Surrealismus, der bestimmt in diesem Fall durch das Rauchen von Zamal seinen letzten Schliff bekommen hat. Ich dachte mir einmal mehr: "das ist doch alles nicht wahr", als ich mich umschaute und die Siedlung näher unter die Lupe nahm: Auf einem recht kleinen Plateau drängen sich ein paar Dutzend Häuser, dazwischen liegen Nutzflächen, Straßen, Weiden, Gärten und das ganze wird umgeben von einer irrwitzigen Ansammlung von bizarrsten Felsbrocken bis hin zu Kraterwänden, den letzteren wurde obendrein noch eine Art Punkfrisur verpaßt, denn nur noch Streifen der ursprünglichen Vegetation von Bergwald sind an den Hängen stehengeblieben, der Rest wurde Opfer des Kettensägenmassakers. Die Zivilisation frißt sich unaufhaltsam und unaufhörlich die Höhen hinauf, so daß mir dort die Horrorvision kam, daß in zwanzig Jahren nicht nur diese Insel ein ziemlich kahler Fels sein wird, nein, zusätzlich wird sie so bevölkert sein, daß die Leute ihre Wohnungen in die fast senkrechten Felswände hereingebaut haben. Armes Paradies, die Zeitbombe tickt!
Dr. Igüz
ist anschließend ausgezogen, um für Euch noch den letzten Part
des erloschenen Vulkans, den "Cirque de Salazie", zu erkunden.
Es gab für mich zwei Optionen, diesen Ort zu erreichen, entweder wieder
schwups über die Kraterwand und in einem mehrstündigen Marsch
nach "Hell-Bourg". Der Name besitzt im Übrigen nichts, aber
auch gar nichts von Phänomenen, wie "self fulfilling prophecy"
oder von bösen Vorzeichen, es ist ganz im Gegenteil ein wunderschöner
Ort. Oder die lange Lösung: um die halbe Insel fahren und per öffentlichem
Verkehrsmittel zu besagtem Ort kommen. Ich entschied mich für die
Lösung per Fahrzeug, denn so hatte ich die Möglichkeit, während
der ausgedehnten Busfahrt um den "Sud Sauvage", den vulkanisch
aktiven Süden der Insel, ein wenig die Landschaft
zu
genießen und mir unter Anderem die Lavazunge des vergangenen Ausbruchs
in diesem Jahr anzusehen. Erschreckend, aber wahr: Die Zivilisation ist
schon über zwei ältere, aber noch deutlich erkennbare Zungen,
hinweggewachsen. Es muß wirklich ein enormer Bevölkerungsdruck
herrschen, wenn Menschen, die Gefahr der Zerstörung ihres Hauses durch
die immer wiederkehrende und unaufhaltsame Lava in Kauf nehmen.
Um einige Eindrücke reicher erreichte ich abends besagtes Hell-Bourg, das nun weiß Jah keinen höllischen Eindruck auf mich gemacht hat. Als ich ankam, hatte es gerade geregnet und wie so oft in den Bergen, hing alles voll mit schweren Wolken. Nicht gerade einladend, dachte ich mir und hatte genau aus dem Grunde der sprichwörtlich starken und häufigen Niederschläge in diesem Kessel eigentlich gar nicht herkommen wollen. Mir wurde nach einem wissenden Blick meines Gastwirtes gen westliche Kraterwand allerdings gutes Wetter am nächsten Tage zugesichert und so war es dann auch, sage mir jemand etwas gegen die Bauernschlauen. Ich sah in der Richtung an den Kraterwänden nur das in Wasserfällen, Bächen und Kaskaden herunterfließende Wasser, das die Grundlage für mit das üppigste Grün lieferte, das der Doktor je gesehen hat, konnte aber bei bestem Willen keine wetterdeutenden Indizien entdecken..
Hell-Bourg war wieder einmal solch ein surreales Erlebnis, einerseits
ein Traum in Farben und Formen, solch ein sattes Grün kombiniert mit
allen Farben, die Mutter Natur hergibt habe ich vorher selten gesehen.
Andererseits war es ein Erlebnis, das mit der Wanderung durch einen verwunschenen
Märchenwald, dem "Bois de Belouve" sehr gut in meine Kindheit
gepaßt hätte, mich auf jeden Fall sehr lebhaft an meine Kinderphantasien
in Bezug auf Märchen erinnert hat.
Das Dorf selbst besteht aus ein paar Dutzend Häusern, die sich hauptsächlich entlang der Hauptstraße und vier, fünf Nebengassen aufreihen. Alle Häuser sind schon älteren Datums und die meisten Bauwerke sind traditionelle, kreolische Casen, gebaut mit viel Holz, Drechsler- und Schnitzerarbeiten, mit Liebe zum Detail, oft einem Touch von Jugendstil, besonders wenn Metall oder Glas verwendet wird und sind umgeben von den phantastischen, über und über blühenden Gärten, in denen oft noch ein kleiner Pavillon steht. Über allem liegt ein leichter Hauch von Verkommenheit, hier blättert die Farbe von der Fassade, dort ist eine Steinmauer eingefallen, alte Thermen, von denen nur noch die Grundmauern und ein paar metallene Relikte übrig sind, aber genau das verleiht Hell-Bourg in Verbindung mit der üppigen und farbenreichen Pflanzenwelt, den Touch von etwas Märchenhaftem oder von der Athmosphäre, die ein alter Kolonialfilm versprüht.
Aber nicht nur das Dorf habe ich mir angeschaut, eine ganz tolle Wanderung habe ich von dort auch unternommen. Der Weg führte mich zunächst an der Kraterwand heraufwindend immer höher über das Dorf hinaus, bis ich schließlich auf dem Rand des Berggrates selbst angekommen war. Dort oben entdeckte ich, daß es früher einmal eine Seilbahnverbindung zwischen meinem hoch gelegenen Standort und dem Tal gegeben hat. Jetzt ragen nur noch ein paar alte und rostige und nicht besonders vertrauenserweckende Streben und Pfeiler aus den Verankerungen im Muttergestein. Und kaum war ich auf dem Grat angelangt und hatte mich kurz zum Ausruhen hingesetzt, schon war der erste der erwähnten Tek-Tek da und kam völlig vertrauensseelig auf einen halben Meter an mich heran, sie sind wirklich kontaktliebend, diese Vögelchen.
Dann ging es
auf in den Märchenwald, der die äußere, weniger steilen
Abhänge des Kraters bedeckt. Der Weg ging am Kraterrand entlang durch
ein selten erlebtes Grün mit Pflanzen, die einen sofort an das Elfenreich
und an andere Sagen und Märchen erinnern, es gibt mehrere Meter hohe
Baumfarne, völlig ineinander verwachsene und knorrige Bäume,
die über den Weg liegen und unter denen der Wanderer gebückt
herkriechen muß, als würde er die Grenze zu einem neuen Märchenreich
passieren, die Wege sind so sumpfig und voller knorriger Wurzeln, die eigentlich
nur Stolperfallen sind, und trotzdem eine Mystik verbreiten, wie man sie
aus "dem Hobbit" oder Ähnlichem kennt. Und wenn ich an den
exponierten Punkten stand, um die Aussicht in den Cirque mit all den Waserfällen,
Bächen und kleinen Gebirgsseen, zu genießen, war ich auf einer
Höhe mit den sich gegenseitig anschreienden Schwalben und den mit
Riesengeschwindigkeit heran- und vorbeiziehenden Wolken.
Morgens bin ich noch bei klarstem Wetter aufgestiegen und losgezogen, als ich jedoch nachmittags aus dem Wald kam und über die Kraterwand schauen konnte, war der ganze Cirque mit einer Wolkensuppe zugezogen. So wurde der Abstieg zu einer leichten Sache, denn der befürchtete Anfall von Höhenkoller blieb wegen der fehlenden Weitsicht aus, der Weg nach unten ging nur ein wenig auf die Kniegelenke. Schon bald stand der Doktor unter der Dusche, um sich für das Dîner fertigzumachen. An dem Abend gab es "Forelle Blau" mit Rahmsauce und Gemüsen der Saison, und das ist schon wieder ein wenig surreal, wenn mensch bedenkt, wo Réunion liegt, dazu noch ein paar delikate Vor- und Nachspeisen, so daß der vom langstündigen Wandern geleerte Magen recht schnell wieder aufgefüllt wurde. An dieser Stelle möchte ich unterstreichen, wie lecker die hiesige kreolische Küche mir immer wieder schmeckt. Und wie ich an dem Abend eigens gemerkt habe, ist es auch möglich, Überraschungen auf der Speisekarte zu erleben, das ist dann "Abenteuerurlaub in der Freßzone".
Der Cirque de Salazie ist wegen seiner Öffnung nach Osten, der Regenseite der Insel, der niederschlagreichste unter den drei Kesseln und hat deswegen die üppigste Vegetation. Die Zufahrt in die höhergelegenen Bereiche des Inneren fallen leichter, als über die kurvenreiche Strecke in den Cirque de Cilaos, und das Alter und Aussehen und der Gebäude legen es nahe, daß Salazie der am ersten erschlossene Cirque der drei Drittel des Piton des Neiges ist, der Doktor wird wohl noch einmal dahin zurückkehren müssen.
Auch nach dieser Exkursion hieß es "back to base", sprich, ich bin erst einmal zum Häuschen meiner Eltern zurückgekehrt. Weil mich zu dem Zeitpunkt die Wanderslust schon völlig befallen und unter Kontrolle hatte, konnte ich es eigentlich keinen Tag mehr ohne wenigstens ein paar Stunden Bewegung aushalten. So kam es, daß ich schon am nächsten Tag wieder auf meinen noch wundgelaufenen Füßen stand und die nächste Exkursion unternahm. Frühmorgens ging es mit dem ersten Bus ein Stück in den Krater hinunter. Ungefähr auf halbem Weg in Richtung des Kesselausgangs bin ich bei "Palmistes Rouges" ausgestiegen. Das Dorf liegt am Fuß einer mehrere hundert Meter hohen Bergwand auf einem Plateau, das entweder von weiteren Bergwänden oder tiefen Taleinschnitten begrenzt wird. Eines dieser Täler, nämlich das, welches den Hauptwasserabfluß des Kessels bildet, war das Tagesziel des Doktors.
Der Trip wurde mir von Kennern der Insel ans Herz gelegt, denn dort kann mensch nicht nur phantastische Impressionen aus der Natur genießen, der Pfad ist vielmehr einer der ältesten Wirtschaftswege in das Innere der Insel. Angenehm war, daß auf dieser Tour keine Hunderte von Höhenmetern überwunden werden mußten. Zwar gab es hier und da rutschige Stellen mit Geröll unter den Füßen, aber die meiste Zeit konnte damit verbracht werden, sich Natur und alte Agrarlandschaft anzusehen.
Zuerst ging
es in die Eingeweide des Vulkans hinab, sprich, vom Plateau, auf dem Palmistes
Rouges langsam die Zivilisation ins Paradies treibt, ging es an den Talwänden
hinab bis zum Wasser, das den natürlichen Abfluß des Cirque
de Cilaos bildet. Nadelwälder wechseln sich ab mit Bambusdickichten
und grasbewachsenen Plateaus. Neben den Tek-Teks hatte ich bei dem Mal
auch das Glück, einen der wenigen auf der Insel noch vorhandenen Greifvögel,
in Kreolisch "Papangue" genannt, zu sehen, er flog mir fast ins
Gesicht, als ich um eine scharfe Ecke bog.
Aber eben weil diese Route ein alter Wirtschaftsweg ist, gab es auch interessante andere Sachen zu sehen. Uns urbanisierten Menschen kommt es idyllisch vor, wenn wir ein Haus Kilometer abseits von der nächsten Straße sehen. Je einfacher das Leben dort ist, desto eher kommen viele Großstädter ins Schwärmen. Dafür gäbe es entlang dieses Pfades einige Gelegenheiten: kleine alte Häuschen, die mitten in der Natur, umgeben von Feldern und Fruchtbäumen stehen und schon fast in der Landschaft verschwunden sind, so überwuchert sind sie von Bougainvillae, Wein oder anderen Kletterpflanzen.
Romantisch sehen die Gärten und Felder aus, umrandet mit Steinmauern, bei deren Anblick viele Leute denken, daß sie zur Zierde aufgetürmt werden, was allerdings ein Trugschluß ist. Die Steine sind aus den Feldern zusammengesammelt und um sie möglichst platzsparend zu entsorgen, werden sie entweder auf einen Haufen geworfen oder zum Bau von Steinmauern benutzt. Nur so ist in vielen Gebieten der Insel die Landwirtschaft überhaupt möglich, so kann "romantisch" schnell zu "rheumatisch" mutieren.
Wenn jemand in solch einer selbstgewählten Abgeschiedenheit lebt, kommt den Produkten der eigenen Arbeit natürlich ein ganz anderer Stellenwert zu. Der nächste Supermarkt ist nun 'mal nicht um die nächste Ecke und auch nicht um die nächsten zehn Ecken. So sind die kreolischen Gärten in ihrer Abgeschiedenheit eine sehr entwickelte und vielseitige Selbstversorgereinrichtung mit Bohnen, Linsen, Mais, Blattgemüsen, Bananen, Zitrusfrüchten Mangos und in angemessener Entfernung von den Kulturpflanzen findet man auch Ziegen und Schafe.
Nach gerade einmal drei Stunden hat mich der Berg am "Pavillon" schon wieder auf die Straße ausgespuckt, wo es dann darum ging, die Wartezeit bis zum nächsten Bus, der mich wieder bergauf über Hunderte von Serpentinen nach Cilaos bringen sollte. Es war schade, daß der Ausflug schon vorbei war, des Doktors Knochen waren mittlerweile mehr gewöhnt. Ein paar Stunden länger wären schön gewesen, aber es war ja auch noch nicht das Ende der Reise, denn etwas fehlte noch.
Réunions
erhabenster Gipfel ist mit seinen dreitausendundsiebzig Metern schon bei
meinem ersten Besuch vor zweieinhalb Jahren eine Herausforderung gewesen,
die ich derzeit allerdings nicht angegangen bin. Dieses Mal habe ich mir
den höchsten Punkt der Insel als Höhepunkt meiner Naturexkursionen
bis zum Ende aufbewahrt. Das hatte praktische Gründe, ich wollte für
diesen etwas härteren Trip, die Details kommen gleich, auf jeden Fall
schon locker und etwas in der Vulkanwelt von Réunion erfahren sein,
um kein Risiko einzugehen, denn "ganz ohne" ist diese Wanderung
nicht.
Gestartet bin ich um halb sechs Uhr morgens in Cilaos. Es wurde gerade Tag und war noch sehr kühl, die angenehmste Temperatur für eine längere Wanderung, deren Hinweg fast nur aus Aufstieg besteht. Zu bewältigen waren viertausend Höhenmeter und knappe zwanzig Kilometer Strecke auf Hin- und Rückweg, das derzeit so anstrengend und heftig scheinende Abenteuer in der Mafate war dagegen tatsächlich nur ein harmloser Sonntagsspaziergang.
Der Doktor hatte an dem Morgen wieder seine schnellen Schuhe an, die ihn in den letzten Jahren schon zu vielen Orten getragen haben, und so wurde Kilometer um Kilometer gefressen. Zamal hatte ich wohlweislich aus dem Body gelassen, bei einer anstrengenden und heiklen Tour, die ich nicht kenne, bin ich am liebsten erst einmal in meinem ganz "normalen" Bewußtseinszustand unterwegs, ein Ausflug nach dem Motto "high auf der Höhe" kann ja jederzeit noch gemacht werden.
Kaum war ich aus Cilaos heraus und in den Wald hereinspaziert, hatte ich auch schon die besagten Tek-Teks um mich herum, die mich wieder auf einem Gutteil des Trips begleitet haben. Es sollte einmal mehr ein surreales Erlebnis werden, die Wolken mit ihren Formen und Bewegungen, aber auch der alte, tote Vulkan und bestimmt die Höhenluft taten ihren Teil dazu. So war Dr. Igüz ein letztes Mal unterwegs auf den Pfaden, von denen mensch nie abkommen kann, denn die schon erwähnten Häufchen, garniert mit weißem oder rosa Topapi, produziert von gallischen Mitwanderern weisen immer den richtigen Weg zur nächsten Zivilisationsstation. Dazu kommen die reichlichen Plastikabfälle und Flaschen, nur dem Müll nach und auch aus der tiefsten Wildnis Réunions findet sich ein Pfad zurück zu menschlichen Siedlungen. Natürlich war die Wanderung nicht nur bestimmt von Abfall, aber betrachte ich die Relikte anderer Wandergruppen, manchmal nennen sich solche Leute gar "Naturliebhaber", kommt es mir einfach immer wieder hoch und ich schäume ein wenig auf. Neben den Beobachtungen über diese Art von Mitmenschen gibt es so vieles mehr zu berichten, darum erzähle ich Euch lieber davon.
Der Weg ging nach der ersten halben Stunde für die nächsten tausend Höhenmeter und fünf Kilometer in Distanz entlang der Kraterinnenwand des Cirques steil berauf bis der Kamm des Kraters erreicht war. Puh, habe ich geschwitzt, und derzeit in der Mafate, als ich dieser immensen Wand gegenüberstand, noch gedacht daß solche Höhen von mir gar nicht zu schaffen sind. Und dann dieser Aufstieg. Immerhin ein paar hundert Höhenmeter mehr, aber offensichtlich war ich gut in Form und die Beine trugen mich ohne große Ermüdungserscheinungen höher und höher hinauf, bis ich über den Kraterrand gucken konnte. Da war es, dieses Gefühl von "über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein", plötzlich eröffnete sich eine völlig andere Landschaft. Habe ich mich bisher durch saftigen Regenwald mit Moosen, Flechten, Farnen undsoweiter immer höher hinaufgewunden, war über dem Kamm die Landschaft plötzlich nur mit karger Vegetation bewachsen und unter mir lagen immense Wolkenfelder über den sanft abfallenden Außenseiten des Kraters ausgebreitet.
Das ist für
mich immer wieder das Majestätischste in den Bergen: Man ist unter,
in und über den Wolken und es kann sich jederzeit in rasender Geschwindigkeit
ändern. Schon fünf Minuten nachdem ich den Pass aus dem Cirque
de Cilaos hinaus zum Piton des Neiges hin verlassen hatte, diente dieser
Einschnitt in den massiven Felsen den Wolken als Einflugschneise von einem
Circue in den anderen.
Durch die immer karger werdende Vegetation ging es weiter gen Gipfel, der majestätisch in schwarzen und roten Lavafarbtönen in der Ferne über mir zu sehen war. Auch der Untergrund hatte sich völlig verändert, im Wald waren es feste Steine oder Erdboden, größtenteils gut zu belaufen, auf dem Kraterrand waren es Geröllfelder aus scharfkantigen Lavabrocken, die unter den Schuhen knirschten und die Knöchel beanspruchten. Auf solch einem lockeren Boden will jeder Schritt überlegt sein und so werden Auge und Reflexvermögen des Hirns gut beansprucht.
Unter diesen rutschigen Verhältnissen ging es nach einem knapp dreistündigen Anstieg noch für eine weitere Stunde weiter leicht bergauf und was soll ich Euch sagen, am besten paßt "auf dem Highway ist die Hölle los", denn unzähligen Franzosen hatten offensichtlich die letzte Nacht in einer Berghütte am Fuß des Piton verbracht und bewegten sich leider alle zur gleichen Zeit, wie Euer werter Erzähler, lemminghaft gen höchste Erhebung des Eilandes. Der Weg war zwar wegen des in der Gegend häufig aufkommenden Nebels, beziehungsweise der tiefhängenden Wolken, schon extragut markiert, die Orgie in weißem und rosanem Topapi, mitsamt den dazugehörigen braunen Zutaten hätte ein Verlaufen aber sowieso nicht zugelassen. Aus anderen Ländern kenne ich es, daß Leute entlang ihrer Wanderwege Steinhäufchen aufschichten, auf der Insel sind es Kackhäufchen, "chaqun à son gôut" fällt mir dazu nur ein.
Die Vegetation wurde immer spärlicher, was bei dem Boden, der fast nur noch aus Lavageröll bestand, aber auch bei der dünnen Qualität der Luft eigentlich kein Wunder war. Der Doktor kam trotz des nicht besonders steil verlaufenden Pfads recht oft ins Japsen und Keuchen, hat sich aber zusammengerissen und die letzten paar hundert Meter geschafft, um dem Piton des Neiges, dem "Schneegipfel" zu huldigen. Schnee gab's zwar keinen, dafür umso mehr Franzosen, als ich endlich nach vier Stunden bergauf mein Ziel erreicht hatte.
Dieser Tag schien nicht dafür bestimmt zu sein, daß ich mich an exponierten Stellen in großer Höhe aufhalten sollte, hatte ich beim Aufstieg schon hier und da ein mulmiges Gefühl im Bauch, so wuchs es auf dem Gipfel zu einem anständigen Höhenkoller heran. Darum habe ich mich dort oben auf dreitausendundsiebzig Metern nur ein paar Minuten umgeschaut, immer schön in respektvoller Entfernung vom Rand des Abgrundes, hinter dem es ein paar hundert Meter in die Tiefe ging. Und jedes Mal, wenn ich einen entfernten Punkt ein wenig zu lang fixiert habe, hatte ich das Gefühl, als würden mir Flügel wachsen und ich abheben, um wie Ikarus erst zu steigen, und dann tief zu fallen.
Ich hatte mir jedoch fest vorgenommen, Euch weiterhin mit ein paar Stories zu versorgen, und so zog ich es an dem Tag vor, mich ein wenig vom Gipfel zu entfernen und erst an einem Ort zu pausieren, an dem meiner Seele nicht unvorhergesehenerweise Flügel wachsen. Dafür ist schließlich immer noch ein klebrig-süßer rostrosaner Speedsaft zuständig, bei dessen gesponsorten Flugveranstaltungen die Crashes Programm sind. Nach einer kurzen Ruhepause für die geschundenen Muskeln und Knochen, etwas Baguette und Obst, ein wenig Tee aus der Thermoskanne und keinem Spliff machte ich mich an den Abstieg zurück in Richtung Cilaos.
Die ersten Kilometer waren abermals recht anstrengend, ich hätte nie gedacht, daß ein Abstieg anstrengender sein kann, als das Erklimmen von Höhen, aber wer es mir nicht glauben will, der oder die soll 'mal versuchen, auf einem Geröllfeld zügig abwärts zu laufen. Es mußte jeder Schritt bedacht werden, denn ein Fehltritt und ein darauf folgender Sturz hätten ein paar häßliche Wunden hinterlassen. Die aus dem Inneren von Mutter Erde geborene Lava hat auch nach den Jahrtausenden ihrer Existenz so dermaßen scharfe Kanten, eine Spur von Erosion war kaum zu spüren, nicht der richtige Untergrund für einen Stunt. Seid beruhigt, liebe Leserinnen und Leser, der Doktor hat sich nicht auf die Schnauze gelegt und ist nach einem Abstieg von ungefähr drei Stunden wieder heil und gesund, wenn auch mit fühlbaren Muskeln und Knochen in der Case seiner Eltern eingelaufen und hat nach diesem, dem anstrengendsten aller Trips auf Réunion den Rest des Tags nur noch die Füße hochgelegt, sofern dies überhaupt noch von den Muskeln zugelassen wurde.
Die Reise auf
die Insel des toten und des lebenden Vulkans, in die Königreiche der
zwei Pitons, ist für mich eine Möglichkeit gewesen, bei der ich
Eindrücke sammeln konnte, die nicht von dieser Welt zu stammen scheinen,
Eindrücke, die wegen der fortschreitenden Zerstörung der Natur
und wegen des Modernisierungswahns auf der Insel vielleicht schon bald
für immer verloren sind, nirgendwo habe ich bisher so ein abwechslungsreiches
Lichterspiel zwischen Wolken, Sonne und bizarren Bergformen gesehen, nirgendwo
solch komfortable Kombinationen von Bergdörfern, die einen europäischem
Lebensstandard bieten, gerade eine Viertelstunde weg von tropischen Urwäldern
erlebt und nirgendwo so kraß den Zusammenprall von Zivilisation und
unberührter Natur gespürt, wie auf La Réunion. Ich hoffe,
daß dieses kleine Restparadies sich noch ein paar Jahre gegen die
Expansionswut des Menschen stemmen kann. Vielleicht sollten die Bewohner
der Insel mehr Zamal rauchen, als es zu diskriminieren, es öffnet
die Augen und ist gut zur Umwelt.
Copyright: Dr. Igüz 1999