Dancehall
Big Up!
„Wheel, selector“, und andere
exotische Shoutouts lassen sich in letzter Zeit häufig auf einschlägigen
Parties der Szene vernehmen.
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Deutschlands
Kopfnickerszene kommt in Bewegung, weg vom coolen Abhängen auf Battles
ist heute das brennende Dancehall Fieber angesagt. Basierend auf dem jamaikanischen
Prinzip des Sound Systems – einer mobilen Disco mit überdimensionaler
Bassperformance – wird das deutsche Reggaepublikum animiert zu shaken,
was es hat. Folge dessen ist, daß immer mehr Weißbrote
sich am heimtückischen Raggavirus infizieren. |
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Im Gegensatz zu den hiesigen
Discoveranstaltungen hat sich auf Jamaika schon in den Fünfziger
Jahren eine richtiggehende Kultur rund um das Sound System entwickelt.
Die Dancehall, der Ort des Geschehens, ist für Jamaikaner mehr als
nur ein Ort des Entertainments. Die Tanzstätten der Karibikinsel sind
Trendsetter, Nachrichtenmedium, Frustventil und Kontaktbörse zugleich.
Daraus hat sich im Laufe der Jahre ein fester Kode für die Durchführung
einer Dancehall Party entwickelt.
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Haushohe Boxen werden von
Trucks angefahren und zu mächtigen Türmen aufeinander gestapelt.
Mit pulsierenden Bässen werden Dorfplätze, abgesperrte Straßenzüge
oder auch Musikvenues der Insel beschallt, wenn die Sound System Crew ihre
kistenweise mitgebrachten 7’’ auf die Plattenteller wirft. Jeder x-beliebige
Ort läuft durch die tief brummenden Frequenzen Gefahr, zur Dancehall
zu mutieren und von einer tanzwütigen Massive in den nächsten
Stunden gnadenlos als Partyzone annektiert zu werden. |
In der Sound System Crew
gibt es den Master of Ceremonies, kurz MC, der mit einem Mikro bewaffnet
in der Dancehall für die Vibes, die brennende Dancehallatmosphäre
sorgt. Dafür toastet oder rapt er über die vom Selector , dem
Plattenaufleger ausgewählten, i.d.R. von Singles kommenden Tunes,
und pusht die von Drum and Bass angeheizte Stimmung bis zum Siedepunkt.
Einige Sounds nehmen noch einen Operator ins Team, der an Effektgeräten
oder Sampler zusätzliche die Tunes unterstützende Effekte erzeugt.
Dieses von Sounds, wie King
Jammy’s, Metromedia, Stone Love oder Killamanjaro über Jahrzehnte
kultivierte, urjamaikanische Konzept haben sich deutsche Sound Systems
schon Anfag der Neunziger Jahre zueigen gemacht. Überhaupt muß
man bei der Betrachtung der deutschen Dancehallszene den Sound Systems
Maximum Respec‘ zukommen lassen, denn Crews, wie Silly Walks aus Hamburg
und Concrete Jungle aus Berlin oder Pow Pow aus Köln machen seit Jahren
Reggaeparties und sorgen in den schwülheißen Atmosphären
der Dancehalls für eine weitere Verbreitung des Raggavirus. Die Massive
wird in den Veranstaltungen mit den neuesten Vibes aus Jamaika, aber auch
mit den klassischen Wurzeln aus der Goldenen Ära des Reggae versorgt
und ist nach einer Reggaeparty immer auf dem neuesten musikalischen Stand.
Eine weitere Informationsquelle
über die Jahre stellen Reggaeinstitutionen, wie David Rodigan
mit seiner B.F.B.S. Sendung „Rodigan’s Rockers“, viele lokale Reggaesendungen
auf Freien Radios, verschiedene Printmagazine, wie das für zwei Jahre
erschienene Dread, neuerlich MK Zwo, Spex, oder auch das seit 1986 jährlich
stattfindende Summer Jam, sowie andere Reggaefestivals dar. Dazu kommen
unzählige Reggae-Projekte -Studios, -Cafés, -Händler etc.
und die seit teilweise mehr als zwei Jahrzehnten in Deutschland ansässigen
Reggaebands, wie Vitamin X, Jamaica Papa Curvin’, The Lions, Bass Culture
oder Makwerhu, die alle gemeinsam den Grundstein für die heute aktive
Reggaeszene in Deutschland gelegt haben.
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Silly Walks
Pow Pow
Rodigan |
Natty U |
Den stilistischen Umbruch
vom ursprünglichen, erdigen, handgemachten und ethnobetonten Reggae
hin zum modernen Sound mit innovativen Inspirationen straight from Yard,
aus den U.S.-amerikanischen Gettos und den Armenvierteln Britanniens konnte
man im vergangenen Jahrzehnt bei Bands wie Messer Banzani, Natty U, Ragga
Fraenkie, The Vision, Jin Jin, Tracy & The Herbman Band oder
B.A.N.T.U. beobachten.
Seit dem Sommer 1998 ist
beim Besuch von Reggaeparties wiederum ein neuer Trend zu erkennen: Baggy
pants ina di dancehall – die immer mehr stagnierende Hip Hop Szene entdeckt
den Dancehall.
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Abgesehen von eh vorhandenen
Schnittmengen liegen die zwei Genres nicht weit auseinander, sie haben
das gleiche Fundament – die schwarze Musik der USA aus den 60er und 70er
Jahren, gleiche Werkzeuge – Turntables und Mikes -, eine ähnlich
gelagerte Message – Befreiung der Underdogs, Black Pride und Ganja Smoking
– und die Betonung von Drum and Bass in den Riddims. Viele Hip Hop Acts
haben immer wieder fette Reggaetunes in ihrem Liverepertoire. Das Übergreifen
der Kopfnicker auf die Dancehalls ist daher eigentlich nur eine Frage der
Zeit gewesen. |
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Durch diese Entwicklung
entstanden in der deutschen Szene neue Vibes, der Ragga wurde dominanter
und internationaler und schon bald war die erste authentische Reggae-Hip
Hop-Fusion am Start: Mr. Gentleman, Mellowbag und Freundeskreis in ihrem
Projekt FK All Stars. Gentleman aus Köln tourte sich gemeinsam
mit Daddy Rings aus Jamaika seinen Arsch ab, war hierzulande auf fast jedem
Festival vertreten.
< Mr. Gentleman
und Daddy Rings
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1999 veröffentlichte
er sein Album „Trodin‘ On“, einen Longplayer der mit Dancehallvibes vollgepackt
ist. Mr. Gentleman setzt in seiner Konzeption auf Vokalunterstützung
aus Jamaika, es gibt vibesstrotzende Duette mit Terry Linen, Richie Stevens,
Jack Radics u.A.. Das erste authentisch teutonische Dancehallalbum
war geboren.
Es folgte seitdem eine kleine
Flut von Veröffentlichungen, die eine Verschmelzung der beiden Styles
Dancehall und Hip Hop ankündigen. Flowin ImmO’s bringen mit „Jamann“
und „Live Love“ Reggatunes auf ihr Album , Freundeskreis veröffentlicht
eine Police and Thieves Version mit „Halt Dich an Deiner Liebe Fest“ und
entern die Charts. Ein Frankfurter Rapper namens D-Flame übernimmt
eine wichtige Brückenfunktion und trägt mit seiner basslastigen
Stimme vokale Dancehallartistik [ahu ahu] in alle möglichen Hip Hop
Projekte der Republik und dessen 2000er Veröffentlichung „Basstard“
betreibt die Fusion der beiden Genres konsequent weiter.
Im Frühjahr 2000 kommt
das Knalleralbum Ancient Spirit von Patrice, dem von Lauryn Hill gepushten
sanften Soul Rebel aus Kerpen bei Köln, weltweit auf den Markt. Die
Scheibe ist eine wunderschöne Reise durch sanfte Reggaetunes, versehen
mit Lyrix, die bei dem gerade Zwanzigjährigen eine tiefe Inspiration
durch jamaikanische Metaphorik zeigen. Produziert und eingespielt mit der
Shashamane Crew in Hamburg, ist Ancient Spirit ein weiterer Meilenstein
in der deutschen Szene.
Der Trend zum Ragga ist nicht
mehr zu stoppen. Auf dem Chemnitzer Splash 2000, einem Kopfnickerfestival,
gibt es ein eigenes Dancehallzelt, das permanent gerammelt voll ist und
Raggaacts werden zum Wohlgefallen der Crowd vom Zelt auf die Hauptbühne
verlegt.
Tolga, ein türkischer
Rapper aus der Frankfurter Hip Hop Szene veröffentlicht im Herbst
2000 mit Now That I Am Here den nächsten Burner. Das Album ist von
der Konzeption her vergleichbar mit Gentleman’s Trodin’ On und featuret
mit General Degree, Lady Saw, Harry Toddler, Spectacular und Lexxus fette
Coops mit jamaikanischen Dancehall Heroes. Aber auch die deutsche Szene
ist durch D-Flame, der mit „Highssgeliebtes Gras“ erste deutschsprachige
Dancehallyrix flasht, weiterhin mit Gentleman und Max & Afrob gut vertreten.
Pionear, der Producer von Germaican Records bringt die ersten lokal produzierten
Riddims in die Hörmuschenln der Dancehall Posse.
Durch die Produktionen dieser
ersten Riddims – Instrumentalstücke, die anschließend mit diversen
Sängern gevoiced werden – der deutschen Crews, die sich der jamaikanischen
Tradition verschrieben haben, verstärkt sich die Authenzität
der hiesigen Dancehallmusik um einen weiteren Aspekt.
Die Kölner Rootdown
Records mit ihrem Produzenten Teka bauen den Racer Riddim und voicen den
Tune mit den wichtigsten neuen Protagonisten der Szene – Natty Flo, D-Flame,
Malaia Roots, Tolga, Benjie, sowie dem Urgestein der hiesigen Dancehallszene
– Ragga Fraenkie, Natty U und Dr. Ring Ding.
Die Dichte und Fülle
der hiesigen Produktionen hat sehr schnell ausreichend Material für
die ersten Compilations angehäuft, und man kann sich damit einen ganz
guten Querschnitt durch die Aktivitäten der deutschen Dancehallszene
reinziehen. Die fetteste Ansammlung von Tunes bietet der vom österreichischen
Trio Kaltenbruner / Estl / Moser kompilierte Sampler Dancehall Fieber,
Roots and Culture zwischen Ragga und Hip Hop kommen von Locke Records aus
Freiburg auf der Compilation Dancehall Visions und Germaican Records hat
mit Germaican Link Up! eine Hip Hop Ragga Fusion zusammengestellt.
Ganz frisch auf den Markt
gekommen sind jetzt vier Produktionen unterschiedlichster Machart.
Seeed, die New Dubby Conquerors
aus Berlin, der heimlichen Reggaehauptstadt Teutoniens bringen mit der
EP Dickes B einen 4-Track Teaser für das bevorstehende Album raus.
Darauf glänzen sie mit dem selbstgebauten Frogass Riddim, auf dem
ein Gastauftritt von Black Kappa gefeaturet ist und bringen uns nach Freundeskreis
die zweite germanophone Police and Thieves Version.
Der zweite Teaser für
ein in Kürze erscheinendes Album ist die Fever-Maxi von Dr. Ring Ding,
dem Master of all Styles. Mit seinen Senior All Stars, einer mit Bläserset
versehenen, phantastischen Backingband liefert der Doktor aus Westfalen
handgemachten, druckvollen Golden Classic Dancehallsound.
Teaser zum dritten ist ein
DJ Tomekk Remix des Tunes „Rough Road“ von Prezident Browns neuem Album.
An den Lyrix kommt Hip Hop Queen Bintia zu Worte – eine schöne Kombination
von englischen mit deutschen Lyrix.
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Ein volles Album hat der
Absolute Beginner Jan Delay alias Eiszfeld mit seinem Werk Searching for
the Jan Soul Rebels abgeliefert. Die Scheibe ging innerhalb eines Tages
von 0 auf 7 in den deutschen Charts, ein Zeichen dafür, dass Delay
mit seiner Sam Ragga Band den richtigen Style für die deutsche Posse
gefunden hat.
Ein weiterer Aspekt der
sich entwickelnden local Scene ist, daß die vormals auf Patois –
dem jamaikanischen Englischderivat – schwer verständlichen Texte jetzt
oftmals klar und deutlich rüberkommen, denn die Sänger beginnen
ihre Lyrics leicht verdaubar auf Deutsch vorzutragen. Damit bekommt die
Musik eine ganz neue Qualität und die bisher hierzulande bestehende
Trennung von Riddim und Message in den Köpfen der Zuhörer ist
aufgehoben.
Teka (Rootdown) und
Natty Flo |
Nun mag man sich
fragen, wie jamaikabezogene Inhalte ins kalte Babylon übertragen werden
können. Der Zuhörer wird überrascht sein, in welcher Tiefe
und thematischen Vielfalt sich die deutschen Dancehalltexte entwickelt
haben: Soziale Underdogs gibt es auf der ganzen Welt, es ist egal, ob man
aus dem Getto in Kingston oder aus einer Hochhaussiedlung einer europäischen
Großstadt stammt, gekifft wird auf dem ganzen Planeten und vertrackte
Liebesgeschichten passieren hier wie da. Damit existieren viele Thermenkreise,
um problemlos anspruchsvolle allemanische Lyrix zu flashen. |
Dementsprechend hat sich
eine ganze Palette von Leitlinien für die deutschen Dancehallyrics
entwickelt, die von den Sängern, SingJays oder DeeJays verarbeitet
werden. Jin Jin mit „Kiffer’s Potpourri“, Benjie mit „Ganja Smoka“, Irre
Locke’s „Marianne“, oder „Highssgeliebtes Gras“ von Tolga und D-Flame
sind allesamt supergeile Legalize It Tunes, schöne Roots and Culture
Lyrix liefert „Roots“ von Natty Flo, Antifa-Statements gibt’s bei Jan Delay’s
„www.hitler.de“ oder Nikitaman’s „Neues vom Feindsender“. |
Jin Jin |
Jan Delay |
Huldigungen an
die Heimat kann man auf „Dickes B“ von Seeed oder bei „Die Party ist zu
Ende“ von Jan Delay hören und die schönsten Girlie Tunes sind
„Ich denk an Dich“ von Lazy Youth und dem Biber und „So verliebt“ von Natty
U und Ragga Fraenkie.
Die treibende Kraft in der
Dancehallszene werden weiterhin nicht Albumveröffentlichungen, Videos
oder Marketingkampagnen sein, sondern weiterhin das über 50 Jahre
alte Format der guten alten in Vinyl gepressten Single.
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Und Singles werden von Sound
Systems in den Dancehalls gespielt, womit die Reggaeparties die wichtigsten
Promoinstrumente für Songs sind. In den vergangenen paar Jahren haben
sich immer mehr Leute zusammengetan und Sound Crews gebildet, so dass heute
in jeder größeren Stadt ein oder mehrere Sound Systems existieren.
Diese Soundbwoys und –gals bringen mit ihrem Knowledge die frischesten,
fettesten und infektiösesten Vibes ind die Dancehalls.
Alle deutschen
Sounds zusammen ergeben eine ellenlange Liste, daraus herausfiltern muß
man die wichtigsten – als dienstälteste zunächst die Hanseaten
Silly Walks, bekannt für ihre heavy Sessions. Es folgt Pow Pow, Teilnehmer
an mehreren internationalen Clashes, derzeit jedoch nach eigenen Aussagen
in Köln nur Residents einer Discoveranstaltung. Der zweite Kölner
Sound Kingstone, dessen Kopf Radney zusätzlich sehr gute Reggaeparties
organisiert und mit Lazy Youth einen Selector und MC hat, der auch im Studio
für 7’’ Produktionen aktiv ist. Und die dritte Crew aus Kölle
ist das 1998 an den Start gegangene Fireball Soundsystem, das mit ihrem
MC Nile Moddy aus der Sicht einiger jamaikanischer Dancehallbesucher die
anderen Kölner Kollegen locker an die Wand spielt. Concrete Jungle
ist ein Berliner Sound, dessen Partyvibes immer wieder schwer abgefeiert
werden, das sich City und Massive jedoch mit einem weiteren Team, mit Supersonic
teilen. Schon lange dabei ist der Essener Top Frankin mit seinem
MC Shockin’ Murray. Neben dem Sound betreibt Frankin seit einigen Monaten
einen Recordshop in Essen. Auf ähnliche Weise finanziert sich ein
weiterer Sound, nämlich Soundquake aus Detmold. Über ihre Homepage
kann man eine Menge Singles und anderes Vinyl aus Jamika, US und UK erwerben.
Weitere Soundcrews, die man in der neueren deutschen Dancehallhistory nicht
vergessen darf , sind Sentinel (Stuttgart), Fred and Barney (München)
und Crucial Vibes (Hamburg). |
Kingstone
Fireball
Top Frankin’ &
Shockin’ Murray |
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Ina di Dancehall
– da treffen sich die Soundbwoys. Da geht das Mike zu den von den Selectors
ausgelegten Soundplatformen von Hand zu Hand, da werden Lyrix geflasht,
da kommen neue Konstellationen zustande und Ideen werden ausprobiert und
ausgetauscht.
Ina di Dancehall – da werden
die neuen Riddims Made in Germany angetestet und mit Texten Made in Germany
geschmückt. |
Was vor einem
halben Jahrhundert in Jamaika aus dem Willen der Unabhängigkeit von
der US amerikanischen Musikszene begonnen wurde, ist heute ein internationales
Phänomen und von der internationalen Musiklandschaft nicht mehr
wegzudenken.
Die Entwicklung der letzten
Zeit ist wirklich für jeden Fan jamaikanischer Musik eine Wohltat
und es kommt einfach megafett, daß hierzulande die von Mr. Gentleman
& Co gepflanzten Samen sich entwickeln und Früchte tragen. Abschließend
möchte ich noch loswerden, daß sich bitte niemand auf den Schlips
getreten fühlt, der meint, eine Rolle in der Entwicklung der deutschen
Dancehallszene zu spielen und seinen Namen hier nicht liest. Setzt Euch
mit RootZ in Verbindung, wir machen gerne ein Feature mit Euch.
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Folgend noch ein paar Links
für Euch:
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