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Tolga

Dancehall ist im Grunde der jamaikanische Vorläufer von HipHop. Reaktionsschnell, schwer vorausberechenbar, Talente am laufenden Meter verschleißend, Lyrics-zentrisch. Wer zu der Mentalität neigt, Musik von ihren Lyrics zu trennen und Lyrics von seinem Leben, von seiner Liebe, von seinem Lifestyle, der bleibt (Platten-) Sammler & Jäger, Fan ohne Frage, und gleichzeitig doch Fremder. Andere akklimatisieren sich in der Kultur mit schnodderiger Selbstverständlichkeit, geraten immer tiefer in den Strudel hinein, bis sie an einem Punkt angekommen sind, wo sie sich kaum noch vorstellen können, je anders gelebt, gefühlt & gedacht zu haben, Dancehall-Sängern wie Tolga ist am ehesten mit solchen Kategorien beizukommen.

Aufgewachsen in Walldorf südlich von Frankfurt, „Volltürke“, wie er sich selber trocken nennt, HipHop-sozialisiert. In den Früh-90er, als er sich durch seine Oberstufenjahre auf der Klinger-Schule quält, ist er Tänzer und Rapper bei Positive, einer bunt gemischten Crew, alle aus dem Einzugsgebiet Walldorf-Mörfelden, „Wir haben in Englisch gerappt, Hardcore, richtig New York-Style“, erzählt er amüsiert, „Hatten Tunes wie „Another Homicide“, wo ich Brüllaffen-mäßig alles rausgelassen hab‘.“ Positive spucken ein paar Beiträge für Frankfurter HipHop-Compilations aus und fallen nach zwei, drei Jahren auseinander.

Tolga’s Tansformation vom Rapper zum Dancehall-Sänger ist ein schleichender Prozess, auch wenn sie aus heutiger Sicht irgendwie logisch erscheint. Mag sein, dass ihm dabei hilft, kulturelle Parallelen auf die ihm eigne Weise zu rationalisieren: „Eigentlich sind Türken wie Yardies. Die Attitüde, das viele Reden ohne etwas zu sagen, immer den Mack markieren, alles unter Kontrolle haben und so...“. Seine Stimme driftet ab, er lächelt verlegen, hat Mühe zu definieren, was längst zu seiner Lebenswirklichkeit gehört, seit ihm Jamaica zur zweiten Heimat geworden ist.
 

Auf die Fährte kommt er über Sänger wie Cocoa Tea und Dennis Brown, deren Musik ihm eine Clique älterer Skater nahe bringt, „die das Leben gelebt haben und die Aufregung und das Risiko“, wie er versonnen sagt, Aber das gehört unter die Rubrik Initiationsriten. 1994 lernt er Jah Meek kennen, einen Dread, den es nach Deutschland verschlagen hatte, und dem er ehrfurchtsvoll eine „Engelsstimme“ attestiert. „Er war mein Lehrer, auch wenn er sich nicht hinstellte und gesagt hat: „‘so, Tolga, jetzt bring‘ ich Dir mal was bei‘. Ich hab‘ damals ja auch noch gerappt und mich nicht getraut zu singen!“

Von diesem Punkt an war Tolga’s Touchdown in Jamaika eigentlich vorprogrammiert. Aber erst im März ’97 ist es soweit. Drei Wochen Jamaica, nicht Kingston, sonder Country, Leben unter einfachsten Bedingungen. „Jah Meek brachte den Stein ins Rollen. Er hat mich zu sich nach Hause eingeladen, nach Robins Bay (40 Autominuten von Kingston entfernt). Da sind meine Urwurzeln in Jamaica. Das ist richtig Country. Kein Licht, kein fließend Wasser. Natur...“. Und die Standpipe (die gusseiserne Wasserpumpe) im Yard...? „Nee, du musstest runter zu ‘nem Brunnen gehen, da konntest Du auch Deine Wäsche waschen und jeden Morgen duschen. Jeder aus dem Dorf rannte da hin. In Robins Bay hab ich Reggaemylitis bekommen (er benutzt den Begriff aus der Wortschmiede von Peter Tosh mit feierlichem Ernst!). Bin zu kleinen Country-Dances gelaufen, war fast täglich mit den MC’s von Damaja Sound zusammen, alles Homies von Jah Meek. Hab‘ zugehört, wie sie ihre Skillz schärfen, ihre Klingen schärfen, bis sie absolut tödlich sind.... Es war krass, mit denen singen zu dürfen, und das mit dem mickrigen Talent, dass ich damals hatte!“ Er legt die Betonung auf dürfen und mickrig, und man hört ihm den Höllenrespekt an, den er für die Crew empfindet, die ihn damals unter ihre Fittiche genommen hat. Auch sonst erlebt er unendlich viel und kommt sich vor, als ob er im Kino sitzt und „der Film irgendwie zu schnell läuft“, braucht Wochen, um seine Eindrücke zu ordnen und zu verarbeiten. Noch heute erzählt er mit glänzenden Augen, wie er das erste Mal in einen „richtigen“ (soll heißen: großen) Reggae-Dance hineingestolpert ist, wo Renaissance und Afrique mit Dub-Plates nur so um sich schlugen, wo der überlebensgroße Capleton, seine Miliz Fahnen-schwingender Bobo-Dreads im Schlepptau, zu einer Impromptu-Performance vorbeischneite und wo Tolga selbst seinen ganz persönlichen Dancehall-Baptismus vollzog. „Wie die Leute getanzt haben, wie sie ihre Musik repräsentierten, ein paar Mal sind sogar (Salut-) Schüsse gefallen...da wusste ich, dass ich singen musste, dass ich hier hingehörte, dass Dancehall einfach meine Richtung war!“

Und er lernte. Schnappt auf. Assimiliert, Taucht bis auf den Grund seines neuen Terrains. Ein Jahr später ist er zurück in Robins Bay, auch diesmal verbring er die meiste Zeit auf dem Land. Wieder in Deutschland und schachmatt gesetzt in einer Stadt, in der Dancehall in etwa so populär ist wie Eiskunstlauf an der Elfenbeinküste, streckt er seine Fühler nach anderen „Reggae-Stationen“ aus, wie er sie nennt. D-Flame, ein alter Freund (und Rapper bzw. Dancehall Dee-Jay), stellt den Link zum Kölner Sound System Pow Pow her, für das Tolga sein erstes Dub-Plate in Deutschland aufnimmt. Er lernt Gentleman kennen, freundet sich mit ihm an, ist beeindruckt davon, „wie Tilman (Gentleman’s bürgerlicher Name) Musik, die aus Jamaica kommt, hier übersetzt. Drück‘ ihm ein Mikro in die Hand, und es ist, als ob Sonnenstrahlen aus ihm herausschießen!“
 

Und er düst immer wieder in den Yard, wird eingespannt in Gentleman’s Album-Produktion, übernimmt mit seiner hellen, schneidenden Stimme so etwas wie eine Cheerleader-Rolle bei „Head Of The Night“, einer Kollabo mit Gentleman und Ritchie Stephens über den stürmisch losfegenden „Sail Away“ riddim, und glänzt auch in dem teils im Studio, teils auf Bob Marley’s altem Bolzplatz in Trenchtown gedrehten Video. Bald harmonieren er und Gentleman als Duett-Partner so natürlich miteinander, wie Buju Banton früher mit Wayne Wonder, oder Tanto Metro heute mit Devonte. Andere Combinations folgen, darunter ihre Hot Gal-Hymne „Ready Fi Di Ride“ über Ritchie Stephens hart gedrillten „Street Life“ riddim und „Lion“, wo Tolga erstmals mit seinem heutigen Produzent paktiert, mit Pionear, der unter den Stimmen der Zwei ein Trapez hochelastischer Hi-Tech-Beats aufspannt.

Schlag auf Schlag geht es weiter. Zusammen mit Freundeskreis nimmt er „Sternstunde“ auf und wird bei einem Teil der FK-Allstars-Tour mitgeschleift. Auf Pionear’s toxischem „Tonsilitis“ riddim turnt er zusammen mit Daddy Rings & Gentleman bei „Arena“ herum und feiert bei seinem Solo-Cut „Living In The City“ mit bittersüß gequengelter Stimme all die Ladies, die ihre illusionslose Country-Existenz gegen das Elend in Kingston eintauschen.
 

Kein Wunder, dass sein Selbstvertrauen als Sänger proportional zu seinem Standing wächst, aber ein gesunder Hang zu scharfer Selbstkritik verhindern, dass es ihm den Kopf verdreht. Dazu taugt auch das gegenwärtige Boom-Klima für Dancehall in Deutschland nicht. Tolga hasst das B-Wort wie alle, die sich seit Jahren für die Musik im Underground zerreißen. „Aber ich habe“, bietet er zögernd an, „schon das Gefühl, dass es momentan so etwas wie eine Welle gibt“. Der Zeitpunkt für sein Debut-Album – „Now That I Am Here“ – könnte günstiger also kaum gewählt sein!
 


Copyright Text: PP  / Photos: Downbeat / Dr. Igüz / Layout: Dr. Igüz 1998 - 2001 Zum Seitenanfang