Irie-Festival ’98 – Der Bericht

IRIE'98 FestivalIRIE’98
Festival


Dortmund, Westfalenpark

5. September 1998

Zum zweiten Mal in Folge findet dieses Festival jetzt statt. Da es
im zweiten Jahr noch ein sehr junges Projekt ist, sehen wir den Veranstaltern,
drei an der Zahl sind es, bestimmt einige Pannen nach, aber nach dem, was
dieses Jahr insgesamt geschehen ist, fällt es mir schon schwer, alles
einfach zu verdauen. Darum habe ich mir vorgenommen, mir den Ärger
runterzuschreiben, für schöngefärbte Artikel habe ich eh
noch nie etwas übriggehabt und wenn mich die Leute vom Festival als
Konsequenz nicht mehr auf dem nächsten IRIE sehen wollen, habe ich
Pech gehabt.

Vorweggeschoben möchte ich bemerken, daß die Veranstalter
sich ein altes Sprichwort durch den Kopf gehen lassen sollten: “Viele Köche
verderben den Brei”. Bei einer Beteiligung von drei Veranstaltern gehen
zwangsläufig Sachen unter, weil immer angenommen wird, der Andere
kümmere sich schon darum. Dieses Mal hat zunächst eine angemessene
Pressebetreuung gelitten. Wurden wir Journalisten noch im Vorfeld erst
gebeten und dann gelobt, was wir doch für eine gute Promotion für
das Festival machen würden, war das am Eingang des Festivals vergessen.
Was wir dort erleben mußten, entsprach eher einer Provinzposse, als
der Professionalität von Festivalveranstaltern. Doch nun erst einmal
der Reihe nach.

Samstagmorgen, es ist voll auf der Autobahn nach Dortmund, denn einem
deutschen Autofahrer reichen schon zwei Wassermoleküle zwischen Straßenbeschichtung
Asphalt und Gummibeschichtung des Reifens, um sämtliche vernünftigen
Fähigkeiten zur angemessenen Führung eines Vehikels zu verlernen.
Auch die gigantische Glühbbirne am Himmel hat an dem Morgen noch nicht
ausreichend Watt entwickelt, um durch Jah’s Schleiervorhang zu dringen
oder ihn gar aufzulösen, so daß die Athmosphäre alles andere
als einladend für ein Open Air Festival ist. Das Team von I R I E
läßt sich aber von solchen wetterbedingten Restriktionen nicht
einkriegen, denn wir sind schließlich nicht aus Zucker gemacht.

Etwas fetter kam es beim Eintreffen am Festival, womit dann das Zermürben
der Nerven so richtig begann. Am Eingang “Blütengarten” sollen wir
auf unsere Backstagepässe warten, die laut anderer Quelle die Woche
davor per Post an uns nach Hause verschickt worden sind. Das wurde uns
gesagt und wer nach Logik fragt, ist verloren. Als dann ein unvorbereiteter
Pressebetreuer am Eingang auftaucht, stellen wir fest, daß unsere
Namen von der vorliegenden Liste heruntergestrichen sind. Und das geht
nicht nur uns so! Ich weiß von drei weiteren Personen und ihren Begleitern,
die sich an dem Tag in der gleichen Situation befunden haben.

Der Pressetyp ist überfordert, man hat ihn ohne jegliche Kommunikationsmöglichkeiten,
wie Walkie Talkie oder Handy auf die Meute von Journalisten losgelassen.
Es bleibt also nur eins: der Veranstalter muß auf dem Gelände
kontaktiert und zum klären der Situation bewegt werden. Es hieß
im Vorfeld des Festivals, daß die Frau, die als Pressebetreuerin
arbeitet auf Rückruf per Handy “auf jeden Fall rauskommt und sich
kümmert”. Ergebnis des Anrufes ist das Erreichen der Mailbox, sprich
das Handy ist ausgeschaltet. Der zweite Veranstalter, den ich an die nicht-mehr-vorhandene-Strippe-weil-Handy
bekomme, fühlt sich nicht verantwortlich und der dritte meint nur
pauschal, daß er uns die Pässe zugeschickt hat und kümmert
sich auch nicht weiter um die Angelegenheit.

Dieses Katz-und-Maus-Spiel geht so für geschlagene dreieinhalb
Stunden, in denen Dr. Igüz an allen Toren und auf allen bekannten
Handy- und Walkie Talkiefrequenzen all sein vorhandenes diplomatisches
Geschick anwendet, mit dem lange sehnlich erwarteten Ergebnis, daß
einer der Veranstalter nach dieser Zeit sich doch ‘mal am Blütengarten
sehen läßt, aber denkt bloß nicht, um sich zu entschuldigen,
sondern zunächst einmal um die Leute, die dort immer noch auf ihre
Pässe warten, pauschal zu beschuldigen, daß wir die verschwundenen
Pässe doch bestimmt verschenkt oder verkauft haben. Ich frage mich,
wie dumm mensch sein muß, seinen Paß wegzugeben um dann über
drei Stunden vor dem Festivaleingang herumzuhängen. Und ich frage
mich, wie dumm ein Veranstalter sein muß, der solch ein Verhalten
bei Journalisten, die schließlich für dieses, sein Festival
arbeiten wollen, pauschal vermutet. Für eine gute und vertauensvolle
Zusammenarbeit, und genau darum sollte es im Reggaebereich schließlich
gehen, ist solch ein Verhalten jedenfalls nicht besonders zuträglich.
Ich hoffe, daß alle Kolleginnen und Kollegen, die das gleiche Problem
hatten, es noch irgendwie geschafft haben, auf das Festivalgelände
zu kommen.

Als wir dann gerade mit dem Überwinden der Eintrittskontrollen
beschäftigt waren, kam es dazu, daß wir noch vier Belgier vor
dem Aus für das Festival retten mußten, denn sie hatten eine
Drehtür benutz, die sie rotierend auf die Seite außerhalb des
Festivalgeländes katapultiert hatte. Die Securities wollen sie trotz
Tickets, die natürlich abgerissen sind, nicht wieder hereinlassen.
Die Multikultitruppe von RootZ kann aber auch bei dem babylonischen Sprachgewirr
zwischen Galliern und Teutonen erklärend und vermittelnd eingreifen
und die vier Jungfritten dürfen sich nach gutem Zureden beim Veranstalter
doch noch ihre Portion Reggae abholen.

Dreieeinhalb Stunden haben wir gebraucht, um den samstäglichen
heiligen Boden des Dortmunder Reggaelandes zu betreten, aber wir sind drin.
Das unprofessionelle Verhalten der Veranstalter ist schnell vergessen,
denn es liegen Reggaevibes in der Luft und solche Schwingungen bringen
sogar einen Dr. Igüz wieder auf den schon oben beschriebenen heiligen
Boden zurück. Die erste Band, “Gentleman and the Killing Riddim Section”
haben wir durch die Warterei schon verpaßt, aber da die Musiker aus
der gleichen Metropole stammen, wie das Kernteam von RootZ , wird es sicherlich
bald eine Möglichkeit geben, sich ein Konzert anzuhören und ein
Interview
zu machen.

Zeitpunkt unseres Eintreffens vor der Bühne war die Umbaupause
für “Chukki Starr and the Robotiks”. So hatten wir noch kurz Zeit,
uns ein Bild vom Veranstaltungsgelände und dem vorhandenen Angebot
zu machen. Ein Versprechen haben die Veranstalter als Konsequenz aus dem
Versorgungsdisaster des letzten Jahres wahrgemacht: es gibt mehr Getränkebuden
und Fresstände. Das Angebot der Konsumzeile ist auf jeden Fall reichhaltiger
und die Schlangen vor den Hütten sind kürzer, oder liegt das
vielleicht nur daran, daß weniger Zuschauer auf dem Gelände
sind, als beim vergangenen Mal?

Bevor dieser
Frage gezielt nachgegangen werden kann, dringen die ersten Klänge
an unsere nach Reggaevibes dürstenden Trommelfelle, hatten wir alle
vorherigen Sounds doch nur aus einer ziemlich großen Distanz wahrnehmen
können. Es sind die Robotiks, die Hausband von Ariwa Records, dem
Label von Mad Professor. Schön ist, daß heute offensichtlich
keine Mogelpackung angeboten wird, sondern daß der Sound dem Etikett
“Mixed by the Mad Professor” entspricht. In der Vergangenheit ist der Konzertbesucher
damit schon das eine oder andere Mal verarscht worden, aber bei dieser
Show sind die Regler des Mischpultes in den Händen des besagten Professors.

Chukki Starr ist ein vierundzwanzigjähriger Sänger und
kommt aus der Londoner Szene jamaikanischer Immigranten. Völlig unspektakulär
und unscheinbar kam er auf die Bühne, nichts von den Starallüren
oder dem Verkleidungsbedürfnis seiner zugegebenerweise gestandeneren
Kollegen. Sobald er das Mikro in seiner Hand hält benutzt, beginnt
Chukki aus der Unscheinbarkeit aufzutauchen und mit dem Fortschreiten seiner
Show gewinnt er immer mehr an Charisma, aber da er bei diesem Auftritt
nur fünf Songs spielt, ist es schwer, sich ein umfassendes Bild von
dem noch recht unbekannten Sänger zu machen. Was wir sehen und hören
ist eine Mischung aus modernen Lovertunes und gemäßigtem Ragga,
die mit urbanen Lyrics der Metropole London das Fundament eines Reggaemusikers
skizzieren, von dem die Welt bestimmt noch einiges hören wird.

Die Backingband bleibt auf der Bühne, der Frontmann wechselt,
nach diesem Prinzip funktionieren viele Reggaefestivals und auch das IRIE’98
versucht auf diese Art einerseits Kosten für zusätzliche Musiker
zu sparen und andererseits die Umbauzeiten auf der Bühne zwischen
den einzelnen Künstlern auf ein Minimum zu beschränken.

Die Robotiks setzen zu einem neuen Tune an und die erste Überraschung
des Tages kommt auf die Bühne: Gut war es, ihn zu sehen, aber angekündigt
war er für das Festival nicht, “Michael Prophet”, um den es die letzten
paar Jahre ein bißchen ruhig war. An diesem Samstag stellt er sein
neues Album “Rootsman” und seine Tunes vom Sampler der “World of Reggae
Tour”, die gerade in Deutschland unterwegs ist, vor. Der Mann, der auch
bei bewölktem Wetter mit einer Sonnenbrille, so undurchdringlich wie
der Sichtschutz eines Schweißers, herumläuft. Aber einmal hat
er sie gelüftet und ich hatte das Glück, just in dem Moment auf
den Auslöser meiner Kamera drücken zu können.

Michael Prophet and the Robotiks sind ein interessantes Gespann und
so ist die Showcase, bestehend aus sieben Tunes, zusammengestellt aus einer
Mischung von Old School Songs, Roots Standards aus Michael’s Repertoire
und einem innovativen Roots Regae gespickt mit Raggaparts, in denen die
Robotiks richtig auf Touren kommen und das Publikum kräftig antreiben.
Die Songs aus dem neuen Album Rootsman, der Albumtitel läßt
es schon vermuter, werden nach wie vor durch Conscious Lyrics ergänzt,
die dem Zuhörer von der Philosophie um Ras Tafari erzählen und
den einen oder anderen Reggaelover zum Nachdenken anregen sollen.

Es folgt der Mann, der in diesem Land eigentlich gar keiner Vorstellung
mehr bedarf. Die Rede ist von Macka B, dem derzeit prominentesten Vertreter
aus dem Hause Ariwa. Macka B und Mad Professor sind ein Gespann, dessen
Trennung eigentlich unvorstellbar ist, obwohl beide Parteien auch Soloprojekte
ohne den Anderen unternommen haben.

Was wird
wohl als erstes geschehen, wenn der stattliche Mann von zwei Metern und
über hundert Kilo Lebendgewicht mit Dreadlocks bis zum Hintern und
einer Stimmgewalt, daß sich ein ausgewachsener Löwe mit seinem
Gebrüll dahinter verstecken muß, die Bühne betritt? Zuallererst
wird Jah Ras Tafari gegrüßt und geehrt, bevor überhaupt
an Musik zu denken ist. Der Mann aus Wolveringhampton, einer Kleinstadt
im Dunstkreis von Birmingham ist bekannt für seine Texte mit Biß.
Nicht nur über Marihuana hat Macka B eine dezidierte Meinung, gleiches
gilt für die Gleichbehandlung von Frauen, die Unterdrückung der
Länder der sogenannten dritten Welt oder den Rassismus in seiner Heimat
England und weltweit. Macka B hört nicht auf, die Ungerechtigkeiten
und Paradoxien dieser Erde aufzuzählen und ist dadurch zu einer großen
moralischen Institution des Reggae geworden.

Mich verwundert der Erfolg des Sängers nicht, denn wer Wahrheiten
mit solch einer geilen Stimme und in solch treffenden Worten rüberbringen
und dazu noch mit solch einer leckeren Band spielen kann, die sich bis
auf die letzte Note auf Macka B’s Show abgestimmt hat, der wird vom Publikum
einfach gefeiert. Macka B hat seine Fans voll unter Kontrolle, es wird
mitgesungen, geklatscht und besonders bei den Dubparts der Robotiks wird
mitgetanzt, daß der Boden unter den Füßen vibriert.

Seine Widmung
an die Reggaeboyz war zwar nicht mehr ganz zeitgemäß, aber dadurch
nicht schlecht. Das jamaikanische Nationalteam hat bei der Weltmeisterschaft
in Frongreisch immerhin ein wenig Farbe und Flair ins Spiel gebracht und
die Boyz haben zigtausende Fans mobilisiert. Harald Schmidts Widmung in
seiner Show war derzeit “das Team mit den geilsten Bräuten”, während
Macka B an dem Samstagabend in Dortmund seine Huldigung an die Elf ein
wenig differenzierter ausformuliert und dafür sogar ein paar Brocken
französisch eingebaut hat, wie schon der Refrain des Songs “Allez”
zeigt. Gereicht hat im Sommer auch die wortstarke Unterstützung eines
Macka B nicht, aber wenigstens die Japsen haben die Reggae Boyz schlagen
können. Es wird wieder eine Chance geben, warten wir es ab.

Auf der Bühne gibt es eine längere Umbaupause, denn nicht
nur der Frontmann, sondern die ganze Kombo wird ausgetauscht. Es folgen
“Pablo Moses and the Revolutionary Dream Band”. Der Frontmann Pablo Moses
sollte langjährigen Reggaehörern etwas sagen, schließlich
macht er schon knappe drei Jahrzehnte Reggaeamusik, aber von seiner Begleittruppe
ist mir bisher nix übers Trommelfell gelaufen. Egal, der Skank stimmt,
kommt scharf auf den Punkt rüber, Drum and Bass ergänzen sich
prächtig und heizen den Beat an und Keyboard nebst zwei Bläsern
ersetzen teilweise die Harmonien der fehlenden Backgroundsänger.

Pablo Moses,
meine Kollegin U2 sieht seine Ausstrahlung als so ernst an, daß sie
gar vom “bösen Blick” spricht, dies allerdings sofort wieder relativiert
, daß es bestimmt die Ausstrahlung von Consciousness und Ernst ist.
Ein Typ der ins Auge sticht, ist Pablo alle Male. Seine Klamotten sind
an dem Tag ausschließlich in Ites Gold and Green gehalten, sogar
seine Schuhe, ein schickes Modell, das ich vorher noch nie gesehen habe:
bestehend aus Sohlen und drangestickter grüner Wolle sehen sie am
ehesten so aus, wie ein paar dicke Wollstrümpfe, hergestellt von einer
farbenblinden Oma, die die Leuchtkraft der grünen Wolle unterschätzt
hat, versehen mit einer dicken Laufsohle, damit Omas Handarbeit nicht in
kürzester Zeit Löcher durch Abrieb bekommt und in der Altkleidersammlung
landet.

Derart beschuht
flippt Pablo in einer Mischung aus den Bewegungsarten von Joe Cocker und
meinem Kollegen Holger, dem Tanzbär über die Bühne. Seine
Show strahlt Power aus und läßt den Frontmann jünger erscheinen,
als er tatsächlich ist. Am Stil der Songs kann mensch jedoch merken,
daß Pablo Moses ganz klar zur Old School der Rastas zu zählen
ist, die das Hoch dern Reggaemusik Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger
Jahre aktiv mitbekommen und zum Teil auch mitgestaltet haben. Schon der
Bühnenname “Moses” läßt es vermuten, die Texte seiner Songs
behandeln religiöse Themen, Consciousness, Drogenprobleme und sozialkritische
Dinge über das Leben auf Jamaika. In seinem altbekannten Hit “Rasta
(no Gimmick)” beispielsweise erzählt Pablo, was es bedeutet, Rasta
zu sein, daß dazu längst nicht eine Pracht von Dreadlocks auf
dem Kopf und ein Spliff im Mundwinkel genügen.

Der nächste Wechsel auf der Bühne wird vollzogen, die Frontmänner
werden ausgetauscht. Pablo Moses geht und ein weiterer Dinosaurier des
Golden Age of Reggae, nämlich “Mikey Dread” steppt auf die Bühne
im Westfalenpark. Dieser Mann konnte schon Anfang der Achtziger Jahre jede
Dancehall zum Überkochen bringen und ich will wissen, ob er diese
Fähigkeit bei einem Publikum der Endneunziger erfolgreich wiederholen
kann.

In Dortmund
kommt er gekleidet in einem majestätischen, roten Satinanzug auf die
Bühne stolziert, das Kleidungsstück unterstützt sein hühnenhafte
Figur und setzt den Sänger gut in Statur. Daß Mikey sehr starken
Wert auf sein Image legt, habe ich schon vor seiner Show im Backstagebereich
beobachten können: aus England sind er und seine Posse mit einem 300E
Mercedes, schwarz mit abgedunkelten Fenstern angereist. Auf dem Wagendach
ruht eine Flasche Ballentines, die danach dürstet, des Sängers
durch das Singen trockene Kehle nach seinem Auftritt wieder geschmeidig
zu machen. Er lebt halt in dem auch von ihm besungenen “rude bwoy stylee”.

Zu der Buddel
mit dem bernsteinernen Feuerwasser paßt sein Startsong “Drunken Master”,
mit dem er die Retospektive seiner Hitphase von anno 1978/79 einleitete.
Der Sänger überzeugt das Publikum mit einem Best-of-Feuerwerk
im Roots’n’Culture Style, unterstützt von einer Bläsertruppe,
die dem Sound einen rootsigen bis jazzigen Touch, halt den Sound der olden,
golden days aufdrückt. Nicht nur Bob Marley, sondern auch Künstler
vom Kaliber eines Mikey Dread haben derzeit dafür gesorgt, daß
es aus Jamaika hieß: “Reggae gwaan international”.

Erneuter Changeover auf der Bühne, erwartet wird der kleine
Mann mit Brille, Dreiteiler und Hut, der uns politische Korrektheit aus
der Sicht eines jamaikanischen Einwanderers auf den Staßen Brixtons
einbläut. Die Rede ist von “Linton Kwezi Johnson”, Sohn jamaikanischer
Einwanderer, politisch aktiv im Klassenkampf und im Kampf gegen Rassismus
jeglicher Art. Für seine Ziele setzt der kleine Mann eine gewaltige,
gar nicht zu seiner Körpergröße passen wollende Basstimme
ein, die so gewaltig röhrt, wie der einsame Löwe in der Ebene
von Abessinien. Als ich LKJ nur von seinen Songs auf Platte kannte, habe
ich ihn mir immer als Zwei-Meter-Hühnen mit einer immensen Mähne
und einer wilden Ausstrahlung vorgestellt. Wie erstaunt war ich, als ich
bei meinem ersten LKJ-Konzert dieses kleine schmächtige Männchen
mit Hut gesehen habe. Aber seine Musik wird durch das geringe Körpervolumen
nicht schlechter, was auch der Abend in Dortmund wieder zeigt.

Eingeleitet wird der Auftritt im Westfalenpark mit drei Stücken
der Dennis Bovell Dubband, die gleichzeitig auch den Soundtrack für
Linton Kwezi Johnson’s Dubpoetry liefert. Heavy wie immer nimmt die qualitativ
einwandfreie von Dub und Roots geprägte Musik ihren Verlauf, bis LKJ,
gekleidet in babyblauen Nylonanzug , dunkelbeigem Hemd, Krawatte und mit
obligatorischem Hut, auf die Bühne schreitet, um dem Publikum mit
seinem Sprechgesang die Wahrheiten aus “Inglan'” zu verkünden.

Zuerst gibt
es einen Überlick über LKJ’s bisheriges Schaffen, Songs von seinen
zahlreichen Scheiben, von der Dennis Bovell Dubband in ein neues Gewand
gepackt. Allerdings sind diese neuen Interpretationen nie so gewagt ausgefallen,
daß die Songs nicht jederzeit wiederzuerkennen wären. Es folgen
ein paar Stücke aus dem aktuellen Album “More Time”, dessen Texte
wieder einmal eine sozio-kritische Betrachtung der Situation in England
und der globalen politischen Lage im Allgemeinen als Grundthema haben.
Der Titelsong “More Time” featuret Lyrics über die gesellschaftliche
Entwicklung, die in den nächsten Jahren ansteht, was uns in der nächsten
Zeit erwartet. In der Jahrtausendwendekrise ist dies kein besonders außergewöhnliches
Thema mehr, jeder singt, spricht, schreibt oder malt darüber, so wie
der Auftritt insgesamt auch nichts Neues, Revolutionäres gebracht
hat. Die Texte entwickeln sich mit der Existenz aktueller Themen immer
weiter, aber ansonsten steht das neue Werk offensichtlich ganz in der Tradition
und Fortführung des altbekannten Heavy-Bass-Stils mit Dubpoetry von
LKJ.

Als Top-Act ist einmalmehr “Alpha Blondy and the Solar System” angesetzt.
Vollmundig künden die Veranstalter des IRIE’98 Festivals im Presseinfo
an, daß kein Reggaestar schwieriger zu behandeln ist, seine Starallüren
können wir nur bestätigen, lest ‘mal den Chiemseebericht von
U2 dazu, aber es sei auch keiner besser, als er und seine Auftritte würden
genauso mystisch, energetisch und umjubelt sein, wie die von Bob Marley,
Alpha’s großem Vorbild.

Genau an diesem Punkt fängt für mich natürlich der
Diskussionsbedarf an. Ich sehe keine “mystisch energetischen Auftritte”,
ich sehe einen Baldhead mit einer Perücke aus Plastikdreadlocks, der
sich in einer absolut arroganten Art mit seinem 600 SEL Benz bis direkt
hinter die Bühne karren läßt und erst dann den schützenden
Blechkäfig seiner Karosse verläßt, wenn alle Normalsterblichen
sein Umfeld verlassen haben und seine Aura nicht mehr durch ihre Anwesenheit
tangieren können. Anstelle von Mystik und Energie bemerke ich da nur
ein Überlegenheitsdenken und ein Superstarverhalten, das in der Reggaeszene
völlig unangebracht ist.

Genug gemotzt über Alpha Blondy, die Musik wird schließlich
nicht nur von ihm, sondern auch vom Solar System, einer feinen Reggaeband,
zusammengesezt aus westafrikanischen und französischen Musikern, gemacht.
Und ihre Musik groovt tatsächlich, ich würde es aber trotzdem
niemals wagen, Alpha auf eine Stufe mit Bob zu stellen oder das Solar System
neben den Wailers anzusiedeln, auch wenn von der Band an diesem Abend wieder
einmal versucht wird, den fantastischen Sound der Musiker um Bob Marley
zu erreichen, der Sound des Meisters und seiner Musiker ist nun ‘mal nicht
erreichbar.

Alpha Blondy and the Solar System stehen für qualitativ guten
Reggae, ihre Show ist schon geil, keine Frage. Nur sollte meiner Meinung
nach niemand zu große Starallüren in der Reggaeszene entwickeln,
dafür sind Musik, Message und Fans viel zu sehr “down to earth”, um
das gut finden zu können. Als Ausklang für das IRIE’98 Festival
war der Musiker schon die richtige Wahl, besonders weil sich das Publikum
mittlerweile an seine Show als Abschlußact von Festivals zu gewöhnen
scheint, er wurde jedenfalls auf dem letzt- und dem diesjährigen IRIE
Festival und dem diesjährigen Summer Jam als Final eingesetzt. Ich
denke aber, das ist für den “Superstar des Reggae” ein wenig inflationär,
findet Ihr nicht? Vielleicht sollten Alpha’s Manager ihn eine Zeit nicht
mehr in Deutschland auftreten lassen.

Das IRIE’98 Festival, so sehr ich mich im Vorfeld darauf gefreut
habe, so sehr entpuppte es sich in der Praxis als Disaster. Nicht nur die
vorher erwähnte dreieinhalbstündige Warterei am Tor und die ziemlich
unpassenden Fragen des Veranstalters zum Verbleib der verschwundenen Pässe
haben mich angenervt, das sind ja mehr meine persönlichen Probleme
mit dem Veranstalter, nein schon aus der Sicht eines stinknormalen Festivalbesuchers
gibt es ausreichend Punkte, über welche die Leute bestimmt intensiv
nachdenken werden, bevor sie sich ein Ticket für das IRIE’99 Festival
kaufen werden. Wie kann ein Veranstalter so viele Künstler aus dem
angekündigten Programm nehmen und dann noch nicht einmal den Mut besitzen,
ein Plakat mit den tatsächlich anwesenden Acts an die Eingänge
zu hängen? Die Reggaelovers sind von weit angereist, um ihre Lieblingsmusiker
zu sehen, das Programm versprach in seiner ursprünglichen Vollständigkeit
schließlich auch eine gewisse Exklusivität. Tja und dann treten
die Leute nicht auf. Ein anderes Problem war, daß zur Verlosung versprochene
Tickets nicht für die benachrichtigten Gewinner bereitlagen und diese
sich aus eigener Tasche Tickets nachkaufen mußten. Blamabel einerseits
für die Veranstalter, andererseits aber auch für die Leute, welche
die Verlosungen durchgeführt haben und überhaupt nichts für
den Mist können, sondern meist noch Werbung für das Festival
gemacht haben und deren Name und Produkt mit in die Unglaubwürdigkeit
gezogen werden.

Wenn ich ein Resumée der zwei stattgefundenen Festivals ziehe,
muß ich feststellen, daß das Chaos überwiegt. Waren es
im vergangenen Jahr Dinge, wie der Kartenverkauf, es gab nicht ausreichend
Tickets an den Kassen und darüber hinaus auch nicht ausreichend Versorgungsstände
auf dem Gelände, die sich um das leibliche Wohl der Besucher gekümmert
haben. Die Folge waren die sich überall bildenden immensen Schlangen
von Menschen, die überhaupt kein Ende mehr nehmen wollten.

Diese Mal lag das Chaos woanders: Wir haben es in einer abgeschwächten
Form schon beim Summer Jam gemerkt, und auch bei der ersatzlosen Streichung
von Reggaetourneen im Herbst des vergangenen und im Frühling des laufenden
Jahres: die Musiker werden zwar angekündigt, treten aber dann nicht
auf. Ein oder zwei Acts können bei einem Festival immer auf der Strecke
bleiben, das wird verziehen, aber jetzt seht Euch ‘mal die Liste von den
Musikern an, die beim IRIE’98 Festival angekündigt waren, aber nicht
gesehen wurden: Freddie McGregor, Capleton und Everton Blender, Ismael
Isaac and the Solar System, Eek A Mouse, und Bunny Wailer. Ich finde, das
sind ein paar Ausfälle zu viel, auch wenn von Veranstalterseite versucht
wurde, wenigstens etwas nachzuschieben, indem Alpha Blondy und Michael
Prophet eingekauft wurden.

Mit dem diesjährigen Aufgebot wurde das Festivalkonzept zur
Lachnummer: “nur Künstler zu verpflichten, die in dem Jahr noch nicht
auf anderen größeren Festivals gespielt haben, oder die schon
längere Zeit durch Abwesenheit auf deutschen Bühnen glänzten”
(O-Ton von Christoph Tewes, einem der Veranstalter). Hingehauen hat das
im Jahre 1998 jedenfalls nicht und auch der Hinweis seitens des Veranstalters,
“wer also ‘mal einen ganzen Tag gut drauf sein will, der darf das neue
Festivalkonzept einfach nicht verpassen. Das IRIE Festival vermittelt irie
feelings für Reggaefans und solche, die es werden wollen” kommt fast
makaber. Ich habe da die böse Vermutung, daß die diesjährige
Veranstaltung eher den einen oder die andere entnervt hat und ich hoffe,
daß der Reggaegemeinde durch das Disaster auf diesem Festival kein
bleibender Schaden entstanden ist., denn langsam aber sicher fühlen
sich die Reggaelovers verarscht, wenn sie hartes Geld für ihre Tickets
hinlegen, aber nur ein Teil der angekündigten Bands tatsächlich
auftritt.

Die Zuschauer waren dieses Jahr auf jeden Fall schon vorsichtiger.
Nachdem letztes Mal ungefähr siebentausend zahlende Besucher kamen,
waren es nach Angaben der Pressesprecherin Julia dieses Jahr um die fünftausend
Zuschauer, Dr. Igüz geschärftes Auge würde die Zahl aber
eher auf maximal dreitausend Reggaefans schätzen. Und in ungefähr
einem Jahr werden wir sehen, wie nachtragend die Besucher einerseits und
wie krititkfähig die Veranstalter des Festivals, wenn es stattfindet
andererseits sind. Das werde ich daran festmachen, ob die RootZ Crew überhaupt
zum Festival akkreditiert wird und ob es wieder Probleme gibt. No hard
feelings!


 

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