Billigdrogen Der Rausch der Armen

VON

WOLFGANG KUNATH

Am

Abend, nach einem langen Gespräch in dem winzigen zementierten Hof

mit den kreuz und quer gespannten Wäscheleinen, geht Maria Rosa González

noch mit vor an die Avenida Eva Perón. Es ist schon dunkel, und

sie vermeidet es, in den engen, düsteren Gässchen der “Villa

Oculta” allzu laut zu reden. “Viele Leute hier kaufen, was ihnen die Drogenabhängigen

verkaufen wollen”, klagt sie über die Nachbarn in diesem Armenviertel,

“und dabei ist es doch sonnenklar, dass alles geklaut ist. Wieso sollte

denn ein Handy, das 200 Pesos wert ist, nur 40 kosten?”

Maria

Rosa war mittags in “Canal 13”, und deshalb klingelt jetzt unentwegt ihr

Handy. “Ich kann nicht allen antworten”, sagt sie, aber dann tut sie es

doch. Hilfesuchende Eltern aus ganz Argentinien, die sie im Fernsehen gesehen

haben, rufen an. “Nein, nein, es kostet nichts”, spricht sie ins Telefon,

und dann gibt sie ihre Ratschläge: “Sie müssen richtig Druck

machen, hören Sie, die Behörden tun sonst nichts… nein, nein,

lassen Sie sich darauf bloß nicht ein, das bringt gar nichts…”

Mit

Engelsgeduld erklärt sie die verschlungenen Wege durch den Dschungel

der Bürokratie, die – vielleicht – zur Rettung führen. Drogensüchtige,

die eine Therapie wünschen, müssen in Argentinien zwar laut Gesetz

aufgenommen werden. Aber die meisten Abhängigen wollen das nicht.

Also müssen die Angehörigen bei einem Richter die Einweisung

erwirken, und das überfordert gerade die Armen, die Ungebildeten,

die Slumbewohner.

Aus

Protest die Straße gesperrt

Die

44-Jährige kennt die Ängste, die Verzweiflung, die Ratlosigkeit.

Sie hat das alles selber durchgemacht, als ihr Sohn Jeremias süchtig

war nach Paco. Und sie hat ihn herausgeholt, mit Energie und Hartnäckigkeit,

die heute anderen geängstigten, verzweifelten, ratlosen Eltern Mut

gibt.

Paco

ist ein Kunstwort, zusammengezogen aus “Pasta base” und “Cocaina”. Es ist

ein Neben-, oft auch ein Abfallprodukt der Kokain-Herstellung, ganz genau

wissen das die Experten auch nicht. Paco wird meist x-mal gestreckt und

verschnitten. Bei chemischen Untersuchungen wurden Kunstdünger, zerbröselte

Schmerztabletten, Pflanzenschutzmittel, veterinärmedizinische Präparate

beigemischt gefunden.

In

einem der beiden Zimmer, die Maria Rosa mit ihrer Mutter, ihrer Tochter

und zwei der drei Söhne bewohnt, liegen die Rauch-Utensilien wie ein

finsteres Menetekel auf der Fensterbank: Ein Metallröhrchen und, als

eine Art Filter, ein Stück Stahlwollschwamm, wie er zum Töpfescheuern

benutzt wird. “Sie magern furchtbar ab, weil sie vergessen zu essen, und

sie haben verbrannte Lippen, weil das Rohr so heiß wird”, erklärt

Maria Rosa. Zwei, drei Peso kostet die Dosis; vier Pesos sind ein Euro.

Aber die richtig übel drauf sind, nehmen 70 oder 100 Pacos am Tag,

oder noch mehr, denn die Euphorie des Rausches ist intensiv, hält

aber nur kurz an.

Die

Mittelschicht greift zu Kokain, Marihuana, Psychopillen. Paco ist die Droge

der Armen. “Die Konsumenten sehen sich selber als das Letzte vom Letzten”,

sagt Graciela Ahumada von der staatlichen Drogenhilfe Sedronar. Außerhalb

der “Villas”, der Elendsviertel, deren Zahl sich seit der Krise von 2001

verdreifacht hat, ist Paco kaum zu finden. Dass umgekehrt die Krise die

Paco-Welle heraufbeschworen hat, hält Ahumada für nicht bewiesen:

“Seit damals ist der Konsum aller Drogen kräftig angewachsen.” Als

wahrscheinlicher gilt, dass unter dem Druck der Drogenfahnder in Peru und

Bolivien die Kokain-Küchen nach Argentinien und Uruguay ausgewichen

sind. Denn Paco zu exportieren lohnt sich nicht. Es wird immer in der Nähe

der Küche vermarktet.

“Es

war furchtbar”, erzählt Maria Rosa von der Zeit vor drei Jahren, als

Jeremias mit Paco anfing, “er kam ohne Schuhe nach Hause, weil er die verkauft

hat. Er hat das Bügeleisen verhökert, er hat den Eisschrank auseinandergenommen,

um an das Aluminium zu kommen, er hat die Wäsche nass von der Leine

geklaut”. Zweimal hat sie ihn zur Oma aufs Land gesteckt, zweimal war er

sofort wieder da. “Sie haben ihn mir nicht in eine geschlossene Anstalt

interniert”, sagt sie, “nur in ein offenes Heim. Da ist er genau eine Viertelstunde

geblieben. Die von der Behörde haben gesagt, da können sie auch

nichts machen.”

Maria

Rosa, die von Sozialhilfe lebt, hat schließlich das getan, was viele

Arme aus Protest tun: Sie hat die Straße gesperrt. Mit ihrem Bruder,

ihrer Nichte und ihrer zwölfjährigen Tochter – später schlossen

sich andere Mütter an – hat sie Autoreifen auf die Avenida Eva Perón

gerollt und eine ganze Nacht lang niemanden durchgelassen. “Am Morgen kam

dann ein Mädchen vom Radio, später das Fernsehen”, sagt sie.

Der Präsident, dem sie über die Medien vom Paco-Handel und den

Folgen für ihren Sohn klagte, hat sich zwar nie bei ihr gemeldet.

Aber die Drogenhilfe Sedronar hatte plötzlich einen Platz für

Jeremias.

Während

sie erzählt, kommt Jeremias herein,ein 21 Jahre alter Junge, groß

und kräftig, der seine Mutter richtig nett und liebevoll begrüßt.

Er setzt den Bericht fort, wie ihn seine Familie aussperrte wegen der Klauerei,

wie er im Winter auf einer halben Matratze – denn eine ganze hätte

er verhökert – im Hof schlafen musste. 31 Kilo hatte er abgenommen.

Einmal versuchte er, sich vor ein Auto zu werfen.

 

 
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