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Ein Großstadtmärchen
oder der Krieg der Farben
 
Es war einmal irgendwann am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in einer großen Stadt, wie es viele andere auch auf diesem Planeten gab und gibt. Es gab eine Menge graue Hochhäuser, viele lärmende und stinkende Autos, Fabriken in Massen und unendliche Straßenzüge, in denen der ewige Straßenverkehr rollte und zombiehafte, scheuklappentragende Menschen von einem Ziel zum nächsten huschten. 

Die Luft war voll vom Gebrumme und Gesumme und Getösen der Abertausende von Motoren der Fahrzeuge, der Maschinen, der Rolltreppen und allen möglichen Arten von Geräten. Angefangen beim Küchenmixer der Rentnerin in ihrer rustikalen Küche bis hin zum überdimensional proportionierten Vibrator der hübschen, langhaarigen Studentin im dritten Stock in dem rostbraunen Haus auf der rechten Seite am Ende der Straße, die sich damit die Verkrampfungen aus ihren harten Wadenmuskeln massiert. Es war heiß und es fiel schwer zu atmen. Das kam durch die vielen Abgase besagter Motoren, die allesamt noch auf dem Prinzip der Verbrennung fossiler Brennstoffe, sprich Produkten der Petrochemie, basierten. Hinzu kamen die säuerlichen Gerüche der sich in der Hitze zu schnell bewegenden Menschen, die zwangsläufig anfangen mußten, ihre wertvollen Körpersäfte aus jeder zur Verfügung stehenden Pore an die Umwelt abzugeben. Es war ein Gasgemisch, das nur ein Geruchsblinder noch als Luft zu bezeichnen wagen würde. 
 
Die Straßenecken waren voll mit vom Wind zusammengewehtem Müll. Das ideale Futter für die Tauben, die sich daran ergötzten, manche mehr, die anderen weniger auf einer verdaubaren Basis sich ernährend. Wie uns die eine Taube an der Ecke der großen Straße uns zu zeigen scheinen will: nach erfolgter Nahrungsaufnahme fliegt sie auf, kommt nach zehn Metern gewonnener Höhe plötzlich aus unerklärlichen Gründen von ihrem Kurs ab und fällt, angesogen von der omnipräsenten Schwerkraft, wie ein Stein vom Himmel. 

Just in dem Moment fährt ein LKW vorbei und der Fahrer wundert sich plötzlich, wo die verdammte Taube herkam, die ihm diesen häßlichen roten Fleck auf der Windschutzscheibe verursacht hat. "Gut, daß die Scheibe keinen Riß bekommen hat", denkt er sich und stellt die Scheibenwaschanlage und die dazu gehörenden -wischer an. Langsam verteilt sich ein gleichmäßiger roter Schmier auf seiner Scheibe. Fluchend fährt der Mann an den Straßenrand und unter großem Prusten und Ächzen kommt der LKW zum halten. Was tun? Der Fahrer schaut sich um und sieht auf der  gegenüberliegenden Straßenseite eine Tankstelle. Der Mann wischt sich über die Stirn und schaut sich, wie er es im Verkehrsunterricht gelernt hat, um - links, rechts, links - bevor er die Straße überquert. 

Im Tankstellenhäuschen ist der Wärter damit beschäftigt, die Süßwarenregale neu zu bestücken. Dabei guckt er aus dem Fenster und beobachtet dasTreiben auf seiner Tankstelle. Links ist ein Junge in seinen besten Teenjahren damit beschäftigt, mit dem Druckluftgerät die Reifen seines Fahrrades aufzufülllen, sehr zum Verdruß einer blondierten, üppigen Mittdreißigerin, die ungeduldig in ihrem Cabrio darauf wartet, ihrerseits die Reifen ihres Gefährtes aufzublasen. 
 
Ein Mann in Arbeitsoverall öffnet die Tür des Tankenhäuschens und murmelt etwas von "Schweinerei" und "fliegenden Ratten" in seinen nur ansatzweise vorhandenen Bart. Er geht zum Warenregal und holt sich einen Schwamm, sowie eine Sprühflasche "Glasklar" heraus. Auf dem Weg zur Kasse sieht er einen Teenager, der sich mit dem Kassierer unterhält. Aus dem auf den Rücken geschnallten Rucksack des Jungen ragt das Ende einer Luftpumpe und jedes Mal, wenn er sich bewegt, kommt aus dem Inneren des Behälters ein Klappern, als würden mehrere Dosen aneinander geraten. 

Plötzlich zerreißt ein lauter Knall die Luft, eine Wolke von aufgescheuchten Tauben erhebt sich von der Straße und dreht in der Luft ihre Kreise. Erschrocken fahren die Männer im
Tankstellenhäuschen zusammen, stürzen vor die Tür und sehen die Ursache für den Krach
unmittelbar vor sich: Die platinblonde Frau liegt neben ihrem sportlichen Cabriolet, dessen linker
Hinterreifen in kleinen Gummifetzen über die gesamte Tankstelle verteilt ist. "Das ist jetzt schon
die zweite Schweinerei innerhalb von zehn Minuten, die ich sehen muß", murmelt der LKW-Fahrer, nachdem er sich die Situation angeschaut hat und nimmt Kurs auf sein Gefährt. Der Tankwart ist schon unterwegs, um den Notdienst zu alarmieren und der Junge hat erst mal seinen Rucksack der Frau unter ihren Kopf geschoben, damit sie in einer etwas bequemeren Position auf die Ankunft der Ambulanz warten kann. 

Nachdem der Wagen vom Rettungsdienst die Frau in sein Inneres aufgenommen und sie per
Schlauch, Kanüle und Atemmaske in seinen Metabolismus integriert hat, der Unglückssportwagen in eine Ecke der an die Tanke angeschlossenen Werkstatt verfrachtet war und auch der Tankwart sich bei ein paar Kippen und Kaffee von seinem ersten Schock erholt hat, schnappt sich der Junge sein Fahrrad und ist bald auf seinem Paar prall aufgepumpten Reifen im stinkigen, niemals endenden Großstadtverkehr verschwunden. 

Während er monoton in die Pedale tritt und sich durch die ewig qualmenden Benzinschleudern schlängelt, schießen ihm die verschiedensten Gedanken in den Kopf: "Was habe ich eben für ein Glück gehabt, daß nicht mir diese Druckluftanlage um die Ohren geflogen ist, sondern die Maschine offensichtlich darauf warten wollte, einem gängigen Klischee über die Parallelen zwischen Haarfarben und Intellekt Genüge zu tun. Vielleicht war das eben die letzte Warnung einer höheren Macht, mir einmal wirklich Gedanken über die Inhalte meines Lebens zu machen und zu überlegen, was anders laufen könnte." 
 
Und der Junge war jemand, der solche Gedanken nicht einfach von links nach rechts durch sein Hirn kriechen ließ, ohne daß diese Strömung in seiner Gehirmnsuppe etwas bewirkt hätte. Sein Fahrrad trug ihn gerade an einer der wenigen grünen Oasen seiner Stadt, dem Alten Park, vorbei. Er entschloß sich, eine Pause einzulegen und an einem ruhigen Plätzchen dem Gedanken von eben noch einmal die Möglichkeit einer Entfaltungsplattform in seinem Kopf zu geben. Er suchte sich einen schönen alten Baum, von denen es leider kaum noch welche in der Stadt gab, denn alle waren der lokalen Variante des Kettensägenmassakers oder der etwas feinmotorischeren Variante, der Baumchirugie zum Opfer gefallen. Aber im Alten Park, der Name sagt es ja schon, gab es noch ein paar solcher Relikte. 

 
Im kühlen Schatten einer großen Platane machte er es sich bequem, sein Fahrrad war an den Stamm des Baumes gelehnt und in seiner Hand qualmte schon bald ein kleiner Spliff. Der Park war an dem Nachmittag gut bevölkert und es gab schöne und häßliche Anblicke zu sehen. Auf der Sonnenwiese aalten sich viele Studentinnen mit ihren knackigen Körpern oben ohne in der Sonne und einige besonders Mutige unter ihnen scheuten sich nicht, auch ihrer Muschi und den milchweißen Pobacken für eine Zeit die "sunny side of life" zu zeigen, denn eine nahtlose Bräune ist schließlich sogar für einen studierten Kopf ein wichtiges Schönheitsideal.

Viele Leute waren mit ihren Kötern unterwegs und der Junge im Schatten der Kastanie stellte sich die Frage, die er sich beim Anblick der freilaufenden Hunde immer wieder stellte: "Können diese Menschen eigentlich nicht lesen, daß die Viecher angeleint sein sollen? Der beste Freund des Menschen lief ungestört zwischen den entblößten sich sonnenden Studentinnen herum, mal hier, mal da schnüffeln, auch schon mal das Beinchen hebend und als Krönung des Gassiganges vielleicht sogar ein sorgsam geformtes Häufchen gut verdauten Césars hinterlassend. 

So ungefähr waren die Bilder, die dem Jungen, den Rücken an den mächtigen
Baumstamm gelehnt, vor seinem inneeren Auge abliefen. Er stellte fest, daß sich das Leben in
seiner Stadt in der letzten Zeit verändert hatte, nicht gerade zum Vorteil, nein, ganz im Gegenteil.
Eine Existenz in dieser Stadt war nur noch zu ertragen, wenn man Teil dieser ganzen großen Biomaschine war, bestehend aus Massen angepaßter Menschen, die das Personal für die Gesamtheit all dieser, stinkenden Einzelmaschinen stellten, die eine Industriestadt kennzeichnen. Und der junge Denker war weit davon entfernt, von irgendeiner Art des Angepaßtseins und konnte nichts weniger ab, als all die stinkenden Verbrennungsmotoren um ihn herum. "Hier muß sich schnell und drastisch etwas ändern, sonst werden auch die letzten Menschen, die sich Gedanken um ein anderes Leben machen, durch die Greuel dieses Vegetierens in der Großstadt um ihre Vernunft und Phantasie gebracht. Ich muß anfangen, mit Gleichgesinnten etwas gegen diesen Moloch zu unternehmen. 

Aus der Ferne vernahm er einen kurzen spitzen Aufschrei, der ihn aus seinen Gedanken riß. Er drehte seinen Kopf langsam in jene Richtung, aus der der Krach kam. Eine fette, braune Ratte war einer während des Sonnenbadens in angenehme Trance versunkenen Studentin über den nackten Bauch gehuscht und hatte bei ihr diesen Ausruf des Schreckens ausgelöst. Über die Situation kichernd drückte der Junge seinen Spliffstummel aus und setzte sich auf sein Fahrrad, fest entschlossen, ab sofort aktiv etwas gegen die Dinge in seinem Leben zu tun, die ihm die Qualität raubten, welche er gerne für den Rest seiner Tage gehabt hätte. 

Wichtig war ihm, Gleichgesinnte zu finden, denn er wußte, allein wird er nicht viel ausrichten können. "Dafür kann ich doch vielleicht meine Graffiti einsetzen", dachte er sich und fuhr mit seinem Fahrrad los, daß die Gegenstände in seinem Rucksack nur so klapperten. 

Die nächsten Tage vergingen damit, an jede Wand mit wenigstens ein bißchen Hinschaueffekt
Messages, Tags und Bombings zu sprühen, die nur in die Szene Eingeweihte verstehen konnten. Sinn  der Aktion war, sich auf diese Art für einen bestimmten Zeitpunkt an einem festen Ort zu verabreden. Ein bißchen hoffte der Junge auch auf den Schneeballeffekt, daß andere Sprayer seine Message aufnähmen und selbst weiterverbreiten würden. 
Einige Tage vergingen und eigentlich hatte sich an der stickig-lauten Großstadt nichts verändert,
der Verkehr rollte, die Fabriken ächzten und qualmten und die Menschen trugen wie immer ihre
Scheuklappen. Wenn man aber genauer hinguckte, dann konnte man sehen, daß hier und da Zeichen in allen Arten von Farben auf dem braunen oder grauen Untergrund von Mauern und Pfeilern der Gebäude prangerten, deren Inhalte eine Geschichte erzählten, die alles andere als Zufriedenheit mit dem Leben in der Großstadt ausdrückten. Die Sprayer hatten zugeschlagen und der von einem verträumten Jungen geworfene kleine Schneeball ist durch die geballte Kraft aller Graffitikünstler der Stadt zu einer bunten Farblawine angewachsen. 

Zu dem Treffen, dessen Termin und Ort in den geheimen Zeichen der gesprühten
Nachrichten versteckt waren, kamen erstaunlich viele Gleichgesinnte, denen das Leben in der Stadt auch schon lange gestunken hat und die eigentlich nur darauf gewartet haben, daß endlich jemand die Initiative ergreift, sich gegen den Moloch aufzulehnen. 


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