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online 19.02.08

Erderwärmung

Das globale Klima kippelt

VON JOACHIM WILLE

Der Mensch heizt dem Globus

bereits seit mehr als 150 Jahren ein – durch Verbrennen von Kohle, Öl

und Gas sowie die Vernichtung der Regenwälder. Doch das Klimasystem

reagiert träge. Das heißt: Die Folgen stellen sich erst mit

Verzögerung ein und sie geschehen allmählich.

Die mittlere Erdtemperatur

ist seit 1900 um 0,8 Grad Celsius gestiegen, der Meeresspiegel hat sich

um 30 Zentimeter erhöht, der Frühlingsbeginn hat sich um zwei

Wochen nach vorne geschoben. Doch auch abrupte Änderungen im Klimasystem

sind zukünftig nicht ausgeschlossen. Das zeigt eine neue Studie, an

der Potsdamer Forscher beteiligt waren.

Die gängigen Klimaprognosen

schreiben den Trend fort. Bis 2100 wird die Temperatur um 1,1 bis 6,4 Grad

ansteigen, heißt es im jüngsten Bericht des UN-Klimarats IPCC

– je nachdem, wie viel Treibhausgase zusätzlich ausgestoßen

werden. Das allerdings ist ein Temperaturkorridor, in dem bereits “Kippschalter”

des Systems umgelegt werden könnten.

Das bedeutet: Wichtige Prozesse

im Klimagefüge können von da an grundsätzlich anders ablaufen.

Teils wären die Veränderungen sogar unumkehrbar. Die Wissenschaftler

haben neun Großregionen der Erde identifiziert, wo das “Kippen” schon

in diesem Jahrhundert beginnen könnte. Darunter sind der grönländische

Eisschild, der Amazonas-Urwald und das Monsungebiet des indischen Subkontinents,

zudem der westantarktische Eisschild, die borealen Wälder und das

Klimaphänomen El Niño.

Die Gefahr, dass es “Tipping

Points” im Klimasystem gibt, diskutieren Klimaforscher bereits seit mehr

als 25 Jahren. Am bekanntesten ist die Warnung, dass der nördliche

Ausläufer des Golfstroms, der Nordatlantik-Strom, versiegen könnte,

der in Europa für ein vergleichsweise mildes Klima sorgt. Interessanterweise

ist dies nach der neuen Studie ein “Kippelement” mit nur geringer Anfälligkeit.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Atlantikzirkulation bis 2100 einbricht,

beträgt maximal zehn Prozent, wie auch der IPCC in seinem Report festhält.

Der Meeresspiegel steigt

Viel anfälliger sind

dagegen das Grönland-Eis und das Meereis der Arktis. Schon wenn es

dort im hohen Norden im Jahresmittel um drei Grad wärmer wird, könnte

das Abschmelzen des Eises irreversibel einsetzen – schlimmstenfalls wäre

der gigantische Eisschild binnen 300 Jahren komplett weggetaut. Folge:

Der Meeresspiegel würde um bis zu sieben Meter ansteigen. Da die Arktis

sich deutlich schneller erwärmt als der Rest der Erde reicht möglicherweise

ein weiteres globales Temperaturplus von 1,5 Grad, um den Prozess anzustoßen.

Beim arktischen Meereis ist das Überschreien der Belastungsgrenze

– 0,5 bis zwei Grad – womöglich sogar schon im Gange. In wenigen Jahrzehnten

könnte das arktische Meer daher im Sommer komplett eisfrei sein.

Direkte Auswirkungen auf

eine große Zahl Menschen hätte das Kippen der weiteren sechs

Zonen, die als “mittel” anfällig gelten. Der Amazonas-Regenwald, der

als globale Klimamaschine gilt, kommt durch Erwärmung sowie Abholzung

und Brandrodung unter Druck. Er könnte, wenn das Temperaturplus drei

bis vier Grad beträgt, “bereits in 50 Jahren großflächig

absterben”, schreiben die Forscher. Der indische Sommermonsun wiederum,

von dem die Ernährung von Hunderten Millionen Menschen abhängt,

droht bereits in den kommenden Jahren unberechenbar zu werden – “und im

Extremfall beginnen, chaotisch zwischen stärkeren und schwächeren

Regenfällen zu pendeln”.

Die Forscher, darunter der

Präsident des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung(PIK),

Hans Joachim Schellnhuber, und Timothy Lenton von der Universität

im britischen Norwich, warnen: “Projektionen von Klimamodellen können

die Gesellschaft in einem falschen Gefühl von Sicherheit wiegen.”

Für menschliche Maßstäbe laufe der Klimawandel bisher langsam

und linear ab. “Bei global ungebremstem Anstieg des Treibhausgas-Ausstoßes

aber kann es zu großflächigen Systemwechseln kommen”, sagt Schellnhuber.

Er fordert, eine Art “Frühwarnsystem”

aufzubauen, mit dem – etwa durch Satellitenmessungen – die Entwicklungen

in den kritischen Regionen sorgfältig beobachtet werden. “Wenn ein

System wie der Monsun sich einem Zustandswechsel nähert, beginnt es

sozusagen zu stottern”, erläutert er. Es kehre nach erratischen Ausflügen

aus der alten Gleichgewichtslage zwar wieder in jenen alten Zustand zurück,

doch die Phasen dazwischen würden immer länger. Schellhuber:

“Das bedeutet, dass das Stottern in der Nähe des kritischen Punktes

immer tiefer wird. Das Frühwarnsystem müsst also die ,Tonhöhe’

der Unruhe im System genau beobachten.”

Den Politikern rät Schellnhuber,

das Ziel “maximal zwei Grad plus” sehr ernst zu nehmen. Wird die globale

Erwärmung dank beherzter Klimaschutz-Maßnahmen auf zwei Grad

Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt, könne

das Kippen der Systeme vermutlich verhindert werden. Die Europäische

Union hat die Zwei-Grad-Marke bereits als Ziel ihrer Klimapolitik beschlossen.

 

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